Mein Kampf/Den blodiga tiden (1960)
Inhalt
Mein Kampf ist ein Dokumentarfilm über den Aufstieg Adolf Hitlers und die Diktatur des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und – nach 1939 – weiteren während des Zweiten Weltkriegs vom NS-Regime besetzten Gebieten Europas.
Vorspanntext:
Jedes Bild in diesem Film ist authentisch. Alles, was hier gezeigt wird, ist geschehen. In unseren Tagen.
Für eine vollständige Schilderung der Tyrannei Hitlers reicht die Zeit nicht aus. Entscheidende und typische Episoden werden aufgezeigt – als Antwort auf die Fragen: Was geschah damals? Wie war es möglich?
Was Hitlers Programm einer Neuordnung Europas bedeutete zeigt die polnische Tragödie. Das am meisten heimgesuchte Land steht für alle besetzten Gebiete.
Dieser Film über die blutigen Jahre ist der Erinnerung an die Opfer des Hitlerregimes gewidmet, in Deutschland, in der Welt. Er ist eine Warnung an die Lebenden und mahnt uns an das Recht jedes Menschen, als Mensch zu leben.
Deutscher Titel | Mein Kampf |
Originaltitel | Den Blodiga tiden |
Produktionsland | Schweden, Deutschland |
Originalsprache | Deutsch, Schwedisch |
Erscheinungsjahr | 1960 |
Länge | 122 Minuten |
Altersfreigabe | FSK 12 |
Stab | |
Regie | Erwin Leiser |
Drehbuch | Erwin Leiser |
Produktion | Tore Sjöberg |
Musik | Marton Lorand |
Schnitt | Ingemar Ejve |
Besetzung | |
Paul Klinger: Kommentatorstimme (dt. Version) |
Mein Film „Mein Kampf“ (1960)
Der Berliner Volksmund hat dem Film „Mein Kampf“ bereits seinem Anekdotenschatz einverleibt: zwei „alte Kämpfer“ sehen sich den Film gemeinsam an. Beim Verlassen des Kinos sagt der eine zum andern: „Aber das Buch finde ich doch besser.“
Der Witz und die beiden Unbelehrbaren haben den Film richtig aufgefasst. Hier wird die Wahrheit gegen Hitlers Floskeln in seinem Buch „Mein Kampf“ gestellt. Authentische Dokumente enthüllen das Gesicht der braunen Ideologie. Propagandamaterial, das die Machthaber des Dritten Reiches selbst hergestellt haben, sagt gegen sie aus.
Der Aufstieg und der Fall des Hitlersystems, der großeAufmarsch und sein unausbleibliches Endziel, das Wesen der „Neuordnung Europas auf rassistischer Grundlage“ und die brutale Eintönigkeit des Krieges werden in meinem Film in wesentlichen und typischen Episoden geschildert. Ein vollständiges Bild dieser blutigen Jahre können allerdings weder ein film noch ein Buch geben. Hier galt es, das Gesicht des Menschen zu zeigen, des bekannten und des namenlosen, des Fphrers und des Verführten, des Henkers und des Opfers. Die Statistik blutet nicht, aber das unmittelbare Erlebnis der Versuchungen, das Kampfes und des Elends geben eine Vorstellung von einer Epoche, die erst dann bewältigt ist, wenn dafür gesorgt wird, daß sie sich nicht wiederholt. Deshalb wendet sich „Mein Kampf“ vor allem an die Jugend. Ein Film über die Vergangenheit ist ein Film für die Zukunft. Ich wollte Bilder und Dokumente direkt zu einer Generation sprechen lassen, für die jene blutige Zeit schon Teil einer Schulaufgabe ist. Einer Jugend, die die Wirklichkeit hinter den Antworten auf ihre Fragen nur selten entdecken kann, wollte ich zeigen, daß jeder Mensch das Recht hat, als Mensch zu leben. Und daß die Entwürdigung des Mensch, sei es als Opfer des Terrors oder als Teil einer willenlosen Masse, das größte Verbrechen ist.
Es ist kein Zufall, daß dieser Film in Schweden entstand. In einem europäischen Land das vom Krieg verschont blieb, ist eine Distanz möglich.
Ich hatte den schwedischen Text zu dem französischen Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais geschrieben. Der Erfolg dieses Films in Schweden ermutigte den Verleiher, T. O. Sjöberg, es mit der Produktion eines dokumentarischen Langfilms übder das Dritte Reich zu versuchen.Ich schrieb eine Synopsis, die die entscheidende Stationen auf dem Wege des Nazisystems aufzeigte. Nach diesem Plan wurden französische und sowjetische, amerikanische und englische, polnische und österreichische Bildstreifen ausgewählt. Das wichtigste Material aber war das deutsche, aus den Sammlungen des alten Propagandaministeriums in Babelsberg bei Berlin. Sie unterstehen heute dem Staatlichen Filmarchiv in Ostberlin. Dort stellte man mir u.a. noch unveröffentlichte Filmrollen aus dem Warschauer Ghetto zur Verfügung, die im Auftrage der Nazispropaganda aufgenommen worden waren. Goebbels und Himmler hatten sie nicht ausgenutzt, weil der Effekt dieser Aufnahmen nicht sicher war. Bei geschlossenen Vorführungen hatten sie Mitleid mit den Opfern statt Verachtung und Haß ausgelöst. Auch antinaziistische Dokumentarfilm-Gestalter der Nachkriegszeit haben nicht gewagt, diese Bilder zu zeigen. Aus Teilen dieser nach wie vor unmontierten Rollen setze ich eine Bildfolge zusammen, die die stufenweise Verwandlung eines gewöhnlichen Stadtteils (Warschau) in eine Hölle beschreibt. Leider hat eine allzu sehr auf Sensationen bedachte Reklame über die Entdeckung dieser Filmrollen Legenden verbreitet, die die Aufmerksamkeit von dem Wesentlichen ablenken, der Wahrheit über Leben und Tod unter unmenschlichen Bedingungen. Für mich galt es vor allem, alle persönlichen Gefühle auszuschalten und mich dieser Wahrheit unterzuordnen. Deshalb versuchte ich auch, die Aussage des Bildes nicht durch aufdringliche Kommentare und harte Effekte zu schwächen. Ich schrieb einen sachlichen Drehbuchtext und betonte weder den kontrapunktischen Aufbau des Films noch den Wechsel im Bildrhythmus allzu sehr. Um die Wirkung gewisser Abschnitte zu erhöhen, wurde nur dort ein Text gegen das Bild direkt ausgespielt. Die Anwendung von Musik war asketisch und ebenfalls kontrapunktisch. In den Abschnitten über den Terror des Dritten Reiches wurden die furchtbarsten zur Verfügung stehenden Aufnahmen nicht verwendet. Nur ein Teil des Publikums ist fähig, sehr harte Bilder richtig aufzunehmen.
Montage und Text des Filmes wurden in den ersten Monaten des Jahres 1960 in Stockholm erstellt, Ende April wurde der Film in Göteborg uraufgeführt. Der überraschende unmittelbare Erfolg des Filmes ist wohl darauf zurückzuführen, daß die Einfachheit des Konzepts und bewußte Kunstlosigkeit der Darstellung eine teilweise vergessene, teilweise unbequeme Wahrheit so direkt zu dem Publikum sprechen ließen, daß sie wie ein Schock wirkte. Inzwischen ist der Film in 100 Ländern gezeigt worden; in einigen hat er Krawalle ausgelöst, in anderen hat man ihn verboten.
Aus „Triumph des Willens“, dem von Leni Riefenstahl „im Auftrag des Führers“ gestalteten „Standardfilm der Partei“, verwendete ich ein paar charakteristische Reportagen von Hitlerreden und Aufmärschen. Der geschäftliche Erfolg meines Films veranlaßte einen Versuch der Riefenstahl, auch an dem Antinazi-Film zu verdienen. Der Prozeß, zu dem diese Forderung führte, ist leider nicht der einzige, den dieser Film hervorgerufen hat.
Die Jugend hat den Film überall verstanden. In Dänemark antwortete ein 16jähriger in einer Rundfunkdebatte über den Film auf die Frage, ob er nun die Deutschen hasse: „Nein, ich hasse den Krieg.“ In Norwegen kam das Parlament geschlossen zur Uraufführung, und die Kriegsinvaliden gaben eine besondere Broschüre heraus, die am Premierentag von ehemaligen Freiheitskämpfern auf den Straßen verkauft wurde. In Österreich glaubte eine Mutter, in einem deutschen Gefangenen auf dem Marsch durch Moskau ihren seit 1943 vermißten Sohn wiederzuerkennen. Sie erhielt eine vergrößerte Aufnahme von dieser Szene, um neue Nachforschungen einleiten zu können. Ein unverbesserlicher deutscher Bewunderer Adolf Hitlers warf mir vor, daß ich die Opfer des Gestapoterrors gezeigt habe; jeder wisse doch, daß das Fotografieren der Leichen verboten gewesen sei. Er verstand nicht, daß er mit diesem Satz die Existenz jener Leichen bestätigte. Sehr erfreulich dagegen ist, daß sich die jungen Menschen in Deutschland dem Film nicht verschlossen haben. Eine neue Generation scheint bereit zu sein, aus den Irrtümern der Vergangenheit zu lernen, und zu verstehen, daß es immer gilt, die angeborenen Menschenrechte zu verteidigen und zu bewahren.
Auszug aus dem Vorwort I zum Filmbuch: Erwin Leiser’s Film ‚Mein Kampf‘. Eine Bilddokumentation der Jahre 1914 – 1945, Frankfurt/M. 1979², S. 3ff
Auszüge aus dem Vorwort zum „Film in Buchform“ (1979)
„(…) Zum ersten Mal wird jetzt der Film „Mein Kampf“ in Buchform vorgelegt. Warum? Die Situation, in der der erste Entwurf des Films vor zwanzig Jahren entstand, entspricht der heutigen Lage. Damals zeigten Aufsätze von Schülern in der Bundesrepublik, was Eltern, Großeltern und Lehrer der Jugend verschwiegen hatten, und ich wollte Bilder, an deren Echtheit nicht gezweifelt werden konnte, die Geschichte des Dritten Reiches mit so unmittelbarer Kraft beschreiben lassen, daß die Wahrheit den Zuschauer zu einer Stellungnahme herausforderte. Für viele Jugendliche bedeutete der Film ein politisches Erwachen. Aus dem „Kursbuch 35“, April 1974, Seite 74, zitiere ich die Äußerung einer jungen Frau, die für ihre Generation repräsentativ ist: „In meiner politischen Entwicklung hat mich noch der Faschismus beeinflußt – wir haben in der Schule nichts darüber gelernt, überhaupt nichts, aber dann habe ich mal ein Buch darüber in die Finger gekriegt, da hat mich ein Schock getroffen, und dann habe ich noch einen Film gesehen, „Mein Kampf“ von Leiser – als ich da rauskam, zitterten mir die Knie, mir war schlecht, ich lehnte mich an einer Hauswand, mußte mich übergeben… Danach war für mich die Welt in zwei Hälften geteilt, einmal die Leute über dreißg und dann die jüngeren, die nichts damit zu tun haben konnten.“ Die „Hitlerwelle“ des Jahres 1977, und die Wirkung der Fernsehserie „Holocaust“ in der Bundesrepublik im Frühjahr 1979, beweisen, daß die Jugend von heute ebensowenig von der Geschichte des Dritten Reiches weiß wie die, die vor zwei Jahrzehnten in ihrem Alter waren.
Ihr Kampf
Mit der Stoppuhr in der Hand vermochte Leni Riefenstahl den Nachweis zu führen, daß 337,67 Meter des Leiserschen, von der Stockholmer Minerva Film produzierten und insgesamt 3325 Meter langen Dokumentarstreifens jenem Film »Triumph des Willens« entstammen, in dem die Riefenstahl – beauftragt von Adolf Hitler – den Massenaufmarsch der braunen, schwarzen und grauen Kolonnen auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg 1934 festgehalten – Leiser: »verherrlicht« – hatte. Die schwedische Minerva Film, so folgerte die Reichsparteitagsfilm-Regisseurin, habe sie deshalb entweder an den Einspielergebnissen von »Mein Kampf« zu beteiligen oder die von ihr – der Riefenstahl – gedrehten Szenen aus dem Film zu entfernen.
»Die Propagandistin Hitlers schämt sich offenbar nicht, an einem anti-nazistischen Film zu profitieren.«
In seiner Diplomarbeit analysiert Josef Weidl den Film MEIN KAMPF als Beispiel für den „klassischen Kompilationsfilm“ mit didaktischer Intention. Hier zitieren wir das Fazit seiner Analyse:
Zwischen progressiv und konventionell — Fazit zu MEIN KAMPF
Erwin Leisers MEIN KAMPF sollte als Beispiel für einen frühen Kompilationsfilm über die NS-Zeit dienen, der ausschließlich aus Originalmaterial besteht. Darüber hinaus steht der Film aber sozusagen auch als ‚Blaupause’ für den, wenn man so will, ‚klassischen’ historischen Kompilationsfilm. Die Gründe dafür wurden erläutert: Leiser zeichnet nach der inhaltlich vorgreifenden Eingangsszene ein chronologisch aufgebautes Bild des Nationalsozialismus in Deutschland nach, der Kommentar nennt vor allem historische Fakten. Film und Kommentar erheben einen gewissen didaktischen Anspruch, den Leiser durch seine Aussage, das Werk sei vor allem „für die Jugend“ gedacht, unterstreicht. Als Beleg für diese didaktische Herangehensweise kann auch der Schriftzug zu Beginn des Films gelten, der nicht nur über die Herkunft des Materials Auskunft gibt, sondern gleichzeitig vorwegnimmt, welche Fragen der Film zu beantworten weiß. Im Lauf der oben stehenden Ausführungen wurde bereits das Bild von der Geschichtsvorlesung bemüht, das den Duktus des Films tatsächlich treffend wiederzugeben scheint: Der Kommentar nennt historische Begebenheiten, dazu werden Bilder mit genau diesen oder anderen passenden Ereignissen gezeigt. Der Sprecher dient nun auch dazu, Zusammenhänge zwischen diesen Aufnahmen zu erklären und Zeitabstände zu überbrücken. Demnach geht der Kommentar auch nicht oft auf Details im Bild ein, sondern stellt das unterschiedliche Originalmaterial eher in einen größeren historischen Zusammenhang. Die Montage der Bilder selbst verzichtet größtenteils auf filmische Effekte wie Überblendungen, Zooms, Anhalten des Bildes oder das Einfügen von extradiegetischen Ton- und Musikeffekten. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die näher erläuterte Sequenz mit den Bildern aus dem besetzten Polen und speziell dem Warschauer Ghetto dar. Dort werden ebenjene filmischen Mittel gezielt, aber zurückgenommen eingesetzt und erregen so im besonderen Maße die Aufmerksamkeit der Zuseher. Anders als im übrigen Film arrangiert Leiser Bilder, Kommentar und Musik hier so, dass das Publikum wohl möglichst stark auf einer emotionalen Ebene angesprochen wird. Die Wirkung des Films, gerade auf den Zuschauer von 1960, ist nochmals hervorzuheben: Die Widmung zu Beginn, die bereits thematisiert wurde, ebenso wie der Verweis auf die „polnische Tragödie“, die anhand der Montage von Filmen aus dem Warschauer Ghetto auf besondere Weise arrangiert ist, lässt den Eindruck entstehen, dass MEIN KAMPF zu großen Teilen als Art Requiem für das jüdische Volk konzipiert ist (vgl. Roth 1982, S. 120). Ein Requiem also, das dem deutschen Volk helfen soll, um die Opfer, die der Nationalsozialismus hervorgebracht hat, zu trauern. Es ist ebenjene in den 1960er Jahren aktuelle Thematik, die sieben Jahre nach Erscheinen von MEIN KAMPF von Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) thematisiert wird. Eine weitere Besonderheit der Bilder ist, dass sie ursprünglich ebenfalls als Propagandamaterial gedacht waren und von Nationalsozialisten zu diesem Zweck aufgenommen wurden. Angesichts des schrecklichen und verstörenden Inhalts konnten sie dazu jedoch nie verwendet werden. Es sind also Originalbilder, die scheinbar tatsächlich keines weiteren Kommentars oder Arrangements bedurften oder bedürfen, um ihre Propagandafunktion zu verlieren und gegen das NS-Regime auszusagen, allein bedingt durch den expliziten Inhalt.
aus: Josef Weidl: „Bilder als Zeugen gegen sich selbst“? Vom Schreiben und Umschreiben der Geschichte im historischen Kompilationsfilm. Unversität Wien 2013, S. 47/48