Die Kunst geht auf die Straße (1970)

Inhalt

Der Film dokumentiert auf unterhaltsame Weise den Beginn des hannoverschen Straßenkunstprogramms. Interviews mit dem damaligen Oberstadtdirektor Martin Neuffer, mit beteiligten Künstlern und mit Passanten vermitteln Hintergründe, Einblicke in die Intentionen der Künstler und die Reaktion der Hannoveraner. Zeitkolorit, insbesondere die Aufbruchstimmung der frühen siebziger Jahre wird deutlich, wenn die Künstler bei der Arbeit und das Publikum bei der „Aneignung“ der Kunstwerke gezeigt werden. Eingebunden ist auch das erste Altstadtfest, bei dem verschiedene Künstler und Kunstwerke präsentiert werden.

Kunsthistorisch interessant ist, dass einige der beteiligten Künstler mittels Statements zu Intention und Charakter ihrer Kunst und durch die Kunstwerke selbst ausführlich vorgestellt werden: Roland Goeschl, Klaus Goehling, die holländische Event Structure Group, Kenneth Snelson und Hein Sinken. Vom Schluss existieren zwei Fassungen, von der die kürzere die der „offiziellen“, veröffentlichten Version ist.


Filmansicht

Produzent: Graf v. Bethusy-Huc
Buch und Regie: Horst Latzke
Kamera und Trick: E. Meyer-Sewering
Ton: Alster Film
Länge: 27:00 min.

Der Film „Die Kunst geht auf die Straße“ ist von der GFS auf DVD mit zugehörigem Booklet herausgegeben worden und zum Preis von 10 € an folgenden Verkaufsstellen zu beziehen:

Nr.
Inhalt
Länge
Zeit im Film
0
Titel und Vorspann
0.35
0.00 – 0.35
1
Einführung/Ausgangssituation: Mittels der Gegenüberstellung einer historischen Situation (anhand eines Gemäldes vom hannoverschen Markt) und der gegenwärtigen Nutzung des öffentlichen Raumes (dominiert von Verkehr und technischen Abläufen, von bloßer Zweckbestimmung) wird der Verlust der Straße bzw. von öffentlichen Plätzen als Kommunikationsorte beklagt
2.07
0.35 – 2.42
2
Aus der Erkenntnis dieser Situation heraus begründet Oberstadtdirektor Martin Neuffer (auf dem Flachdach eines Gebäudes am Aegidientorplatz stehend) die Entscheidung des hannoverschen Rats, ein Straßenkunstprogramm zu starten. Dabei wird auch die Entscheidung für moderne, abstrakte Kunst begründet: Lernprozesse sollen mobilisiert, Denkmodelle verändert werden.
2.58
2.42 – 5.05
3
Am Beispiel eines hannoverschen Bürgers, eines älteren Herrn, wird der „Abstand“ zwischen der Kunstwahrnehmung des „Durchschnittsbürgers“ und moderner Kunstauffassung bzw. den diese ausdrückenden Kunstwerken dargestellt.
1.11
5.05 – 6.16
4
Oberstadtdirektor Neuffer und der Off-Sprecher erläutern weiter das angelaufene Experiment „Straßenkunst“: Durch ständige, intensive Begegnung mit den Kunstwerken sollen die Bürger der gesamten Stadt sich mit moderner Kunst auseinandersetzen und ihre „Kunstblindheit“ überwinden.
0.47
6.16 – 7.03
5
Während Kunstwerke an verschiedenen Orten der Stadt aufgestellt werden, äußern sich verschiedene interviewte Passanten zum Experiment Straßenkunst
3.56
7.03 – 10.59
6
Der Künstler Roland Goeschl wird vorgestellt, bzw. erläutert er seine Kunstwerke und seine Auffassung vom Experiment Straßenkunst; die Kamera zeigt zwischendurch seine Objekte („Architekturwucherungen“)
1.17
10.59 – 12.16
7
Als nächster Künstler wird Klaus Goehling vorgestellt, der mit seinen „aggressionslösenden Spielobjekten“ eine Beitrag zu einer aggressionsentspannten Welt schaffen will. Man sieht Kinder wie Erwachsene mit verschiede-nen Objekten Goehlings spielen bzw. diese durch die Straßen bewegen
2.11
12.16 – 14.27
8
Während des ersten Altstadtfestes tritt die Londoner Dogg’s Troup, eine Straßentheatergruppe, singend und spielend auf
0.47
14.27 – 15.14
9
Der ungarische Künstler Janos Nadasdy schreibt, in einem Käfig aus Maschendraht sitzend, seine Eindrücke vom Straßenkunstprogramm auf, um sie anschließend mit dem Publikum zu diskutieren
0.45
15.14 – 15.59
10
In einem indirekten, nur durch den Schnitt hergestellten „Dialog“ geben Oberstadtdirektor Neuffer und verschiedene Passanten z.T. kontroverse Statements bzw. Meinungsäußerungen zu den Kosten des Straßenkunst-programms und zum Altstadtfest ab
1.35
15.59 – 17.34
11
Während diverse Bilder/Impressionen vom Altstadtfest gezeigt werden, äußern sich Besucher positiv darüber
1.23
17.34 – 18.57
12
Die holländische „Event Structure Group“ mit ihren begehbaren, auf den Maschsee (ein)gesetzten Objekten (Schlauch über den See, Tetraeder); eins ihrer Mitglieder erläutert das Projekt
1.31
18.57 – 20.28
13
Ein weiteres Projekt des Künstlers Klaus Goehling: „Gewohntes durch Überraschungseffekte wieder spürbar machen“, hier am Beispiel des Marstalltors gezeigt, das durch einen hineingezwängten großen Ballon verfremdet, bzw. akzentuiert wird
0.36
20.28 – 21.04
14
Weitere Bilder und Impressionen vom Altstadtfest: Musiker, tanzende Besucher, Künstler, Feuerschlucker
1.26
21.04 – 22.30
15
Ein Objekt des amerikanischen Künstlers Kenneth Snelson wird vorgestellt: Der „Nadelturm“ (im Volksmund auch „Hopfenstangen“ genannt, im Film vor dem Leineschloss, heute auf dem Waterlooplatz), der von kletternden Kindern vereinnahmt wird
0.57
22.30 – 23.23
16
Interviewte Passanten und Oberstadtdirektor Neuffer geben verschiedene Kommentare zum Straßenkunstprogramm
1.19
23.23 – 24.42
17
Die „aerokinetischen Objekte“ des Berliner Bildhauers Hein Sinken, insbesondere das Windspiel vor dem Stadtcafé, werden gezeigt und erläutert; den Künstler interviewt der Filmemacher Horst Latzke
1.12
24.42 – 25.54
18
Während der Off-Sprecher eine Zusammenfassung gibt, und einfordert, dem Straßenkunstprogramm eine Chance zu geben, werden parallel noch einmal viele Kunstwerke gezeigt und mit hannoverschen Stadtimpressionen zu einem kaleidoskopartigen Resümee montiert
2.41
25.54 – 28.35

Die Grundidee zu dem Film stammte von dem Regisseur Horst Latzke, der an die Stadtverwaltung Hannover herantrat und die Idee für einen „Straßenkunst-Film“ vorstellte Die Stadt befand die Idee für gut und bewilligte einen Etat. Ausgehend von einem Konzept, das Latzke entwickelt hatte, begann er gemeinsam mit seinem Kameramann Erhard Meyer-Seweriing und weiteren Mitarbeitern mit den Dreharbeiten. Die meisten AUfnahmen wurden an dem „heißen Wochenende“ – dem ersten Altstadtfest in Hannover – gemacht. An diesem Wochenende arbeiteten die Filmemacher mit drei Teams. Neben vorbereiteten Interviews wurden auch spontan Leute aus der Menge herausgegriffen und befragt. Gedreht wurde auf 16mm-Farbumkehtfilm (Kodak). Die etwa 3,5 Stunden Filmmaterial wurden von latzke, Meyer-Sewerng und einem Tontechniker geschnitten, bearbeitet und zu einem knapp 30minütigen Film zusammengestellt. Begleitet werden die Bilder des Films von damals aktueller Musik, überwiegend vom Dave-Pike-Set, deren jazzige Vibraphoneklänge je nach Einstellung für einen ruhigen oder lebhaften Hintergrund sorgen. Daneben sit mit „Whole lotta Love“ von Led Zeppelin ein großer Hit der Zeit zu hören.

Nach Ablauf des Straßenkunst-Projekts geriet auch der Film zunehmend in Vergessenheit. Mehr oder weniger abgenutzt überlebten das Umkehroriginal (stumm) und einige Vorführkopien in verschiedenen hannoverschen Einrichtungen. Ca. 30 Jahre nach seiner Herstellung wurde der Film in seiner nunmehr historischen Qualität wieder entdeckt. Nach mehreren Anläufen gelang es der Gesellschaft für Filmstudien im Jahr 2004 ein mit Drittmitteln gefördertes Projekt durchzuführen und dabei auch diesen Film zu bearbeiten und zu sichern. Dabei gestalteten sich die notwendigen Arbeiten schwieriger als erwartet. Da das Umkehroriginal und die einzelnen Kopien jeweils verschiedene Längen aufwiesen und keine Produktionsunterlagen mehr vorhanden waren, mussten alle Materialien zunächst aufwändig dokumentiert (Einstellungsprotokoll) und miteinander verglichen werden: Einerseits um eine vollständige Fassung in Bild und Ton zu erlangen, andererseits um die jeweils beste Bild- und Tonqualität sicher zu stellen. Durch das genaue Protokollieren und Vergleichen, ergänzt durch Erinnerungen der Filmemacher, konnte eine damals (1970) „autorisierte“ Fassung rekonstruiert werden. Ein weiteres Problem bestand darin, dass die insgesamt neunzehn Anfangs- und Zwischentitel dieses Films so verblichen waren, dass sie für Kopierschritte nicht mehr benutzt werden konnten. Dementsprechend wurden die Titel in Anlehnung an das originale Schriftbild neu gestaltet, auf passendes Filmmaterial aufgenommen und in den Film eingefügt.

Diese aufwändige Sicherung und Butzbar machung war die Voraussetzung dafür, dass der Film nun auch auf DVD und hier in der Lernwerkstatt präsentiert werden kann.

Ende der 1960er Jahre machten sich  – nicht nur in Hannover – verstärkt gesellschaftliche Strömungen bemerkbar, die eine weitere Demokratisierung und breitere Teilhabe an Politik, Kunst und Kultur forderten. Dazu kam eine kritische Sicht auf die als Ergebnis des Wiederaufbaus entwickelten Stadtbilder, die so genannte „Unwirtlichkeit der Städte“. So wurde auch die Stadt Hannover vielfach als langweilig, eintönig und wenig kommunikativ empfunden. In diesem Kontext rückten unter dem damaligen Oberstadtdirektor Martin Neuffer Überlegungen in den Vordergrund, die Stadt Hannover phantasievoll zu beleben. Ein wichtiger Baustein für diese Umgestaltung, von der man sich auch einen erheblichen Image-Gewinn für die Stadt versprach, sollte das „Experiment Straßenkunst“ sein, das ab 1970 zunächst für drei Jahre in Hannover stattfinden sollte. Der Rat der Stadt bewilligte vorerst ca. eine Million DM pro Jahr für dieses Experiment. Um den spektakulären Charakter des Projekts Straßenkunst zu betonen und um eine räumliche Konzentration zu schaffen, wurde zeitgleich im Jahre 1970 das erste Altstadtfest veranstaltet. Beide Veranstaltungen riefen eine große, auch überregionale Resonanz in den Medien hervor, die üverwiegend sehr positiv war.

Einige Jahre später geriet des Experiment Straßenkunst zunehmend in die Kritik. Ein Anlass war die Aufstellung der (später durchaus geschätzten) Nanas von Niki de Saint Phalle im jahre 1974, die seinerzeit erhebliche Proteste auslöste. Dagegen entwickelte sich das Altstadtfest zu einem echten renner, bevor es ab den 1080er Jahren zunehmend komerzialisiert wurde.

Sed mollis elit vel ante maximus placerat. Donec venenatis mollis condimentum. Nulla iaculis tellus ac tortor varius lacinia. Sed ac dui at tellus rhoncus tincidunt sed quis lacus. Nullam commodo sem ut turpis rutrum accumsan. Morbi iaculis aliquet imperdiet. Pellentesque dictum sagittis est, id dapibus leo gravida eget. Curabitur scelerisque arcu sed venenatis fringilla. Nullam cursus lobortis metus, feugiat ultrices tellus mollis vitae.


Stellungnahmen zum Experiment


Straßenkunst
Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 31.8.1970

„Objekte der Bewußtseinskunst zielen darauf, die Wahrnehmung des Betrachters zu verfeinern, zu erweitern, Gewohntes durch Überraschungs- und Verfremdungseffekte, durch eine Reizdusche sozusagen, wieder spürbar zu machen […] So ist das mit dem Ballon, den Klaus Göhling durch den Marstall-Torbogen gequetscht hat („Sichtbare Luft durchdringt Torbogen“). Die Leute, die drunter hergehen, schauen hinauf, sehen den Schwung der Rundung – ach, so sieht das Tor aus, durch das man so oft gelaufen ist. Und schließlich faßt man den Ballon ein wenig an – zweites Motiv dieser Art von Kunst: das Mitspielen, das Reagieren, sei es aggressiv oder mit Lustgewinn, nur keine passiven Zuschauer!

Am Abend spielten die erwachsenen Altstadtbesucher mit, am Tag überließen sie den Kindern weitgehend Klaus Göhlings Babbelplast „happy air“ auf der Wiese und die Spielplastik im Klostergang. Die Rollen waren wie gewohnt: die Kinder durften sich euphorisch in die Ballons werfen, die Mütter standen und schauten zu. Einen größeren Ruck zum Dabeisein gab man sich am Ufer des Maschsees, um in der Plastikwurst über das Wasser zu wandern. Wer zu Anfang ’rüber kam, hatte etwas Abenteuer im Auge. Weniger interessant blieb für die Zuschauer und Mitspieler die Art, in der plötzlich ein weißer milchiger Streifen das Wasser in zwei Teile schnitt. […]

Zitiert nach: Experiment Straßenkunst, S. 41.



Christ und Welt
 (11.9.1970)

Korrekte Automobilisten fahren plötzlich Slalom um die Straßensperren, die knallig bunten Kunststoff-Kuben des Österreichers und Wotruba-Schülers Roland Goeschl. Seine roten, blauen und gelben Styropor-Würfel signalisieren noch an anderen Stellen ein verändertes „Stadtgefühl“, auf dem pflastersteintristen Grau einer Verkehrsinsel, an einer lärmenden Brücke und – als kunterbunte Querköpfigkeit – an der gravitätisch-grauen Fassade des Rathauses. Goeschls Farbkuben akzentuieren städtische Umwelt, heitern sie auf, destruieren alte und blinde Sehgewohnheiten.

Zitiert nach: Experiment Straßenkunst, S. 46.


Der Städtetag (Nr. 10/Oktober 1970)

[…] so hat es der Rat der Stadt Hannover beschlossen: „Bis zum 31. August 1973 wird ein experimentelles Straßenkunst-Programm für alle Formen der bildenden Kunst veranstaltet.“ Für dieses in der Bundesrepublík wohl einmalige und richtungsweisende Unternehmen werden 1970 allein für das Straßenkunst-Programm eine Million Mark zur Verfügung gestellt. Das hört sich gewaltig an, ist aber, gemessen an dem Kulturetat der Stadt von 38,5 Millionen und einem Sozialbudget von 120 Millionen, durchaus vertretbar.

Oberstadtdirektor Martin Neuffer, der Initiator dieses Versuches, will die Begegnung mit der modernen Kunst auf breiter Basis herbeiführen, den Umgang mit der Kunst zu jedermanns Sache machen, und zwar auch abseits der herkömmlichen Form von Ausstellungen und Museen. Dabei denkt Neuffer zunächst an alle Arten von Großplastiken einschließlich der mobilen, die sich am ehesten zu einer Aufstellung im Freien eignen. […]

Der öffentliche Raum der Stadt soll „mit sehr viel und unterschiedlicher Kunst direkt angefüllt werden wie mit Bäumen“. Die Kunst soll überall präsent sein, um damit die „Unwirtlichkeit der Stadt“ zu beheben, das bewußte oder unbewußte Unbehagen zu beseitigen und das Aufbegehren gegen die städtischen Lebensformen durch die Schaffung eines Gegengewichtes zu verhindern. Dabei will man mutig auch Unnützes tun und sich den Zwängen de Nützlichkeit entziehen. Obwohl eine Repräsentativ-Umfrage ergeben hat, daß nur 40 Prozent der hannoverschen Bevölkerung den Plan „Straßenkunst“ gutheißen, während 47 Prozent sich dagegen aussprachen und 13 Prozent ohne Meinung waren, hat der Rat der Stadt freie Fahrt für das Experiment gegeben, und zwar quer durch alle Fraktionen.

Auftakt für das weit über die Bundesrepublik hinaus beachtete und gerühmte Unternehmen bildete ein Volksfest in der Altstadt, das sich zwischen Marktkirche, Leineufer und Kreuzkirche abspielte und mehr als 30°000 Menschen in seien Bann zog. Das Altstadtfest mit Jazzbands, Folkloregruppen, Straßentheater, Feuerschluckern, Babbelplast-Aktionen Puppenspielen, Bier- und Würstchenständen, Karussels, Pony-Kutschfahrten und dem „Phänomen der sichtbar gemachten Luft“ bildete eine großartige Kulisse für den Beginn der Straßenkunst. Aufmerksamkeit erregten der farbige Glasturm von Walter Kuhn, die kinetischen Windspiele von Hein Sinken vor dem Opernhaus und der Nadelturm von Kenneth Snelson auf der Wiese gegenüber dem Landtag, der bald vom Volksmund in „Hopfenstangen“ umbenannt und von Kindern erklettert wurde. Die Farbkuben von Roland Goeschl, wie riesige Geschenkpakete an verschiedenen Gebäuden angebracht, tauchten abends als Spielbälle in der heiteren Festmenge auf. […]

Die Bürger und Gäste dieser Stadt haben jetzt drei Jahre Zeit, sich mit allen Formen de bildenden Kunst, die in den Lebensraum der Stadt einbezogen werden, auseinanderzusetzen, sich daran zu gewöhnen, sie abzulehnen oder auch zu bejahen, damit moderne Kunst in Zukunft nicht ausschließlich den Museen vorbehalten bleibt.

Zitiert nach: Experiment Straßenkunst, S. 22.



Altstadtfest
Hannoversche Allgemeine Zeitung (31.8.1970)

Zehntausende unterschiedlichen Alters aus nah und fern haben am Wochenende in Hannovers Altstadt etwas erlebt, das noch nie dagewesen ist. Schon deshalb braucht hier nicht im einzelnen erwähnt werden, daß manches noch effektvoller hätte gestaltet werden können – bei einer Wiederholung im nächsten Jahr, an die man im Rathaus ernsthaft denken sollte, könnte man aus der Uraufführung Lehren ziehen. Daß Hannovers Altstadtfest ’70 – als Superparty, sozusagen – ein erfreulicher Erfolg war, steht fest, und das sollte ermunternd wirken.

Einen sehr großen Anteil an diesem Erfolg hatten die Menschen, die Festteilnehmer selbst. Ebenso wie Mini-Mini und Maxi-Maxi sich recht reizvoll vertrugen, kamen auch jung und alt einander näher, die Unmengen ganz junger und junger Leute, mit den vielen „Mittelalterlichen“ und den etlichen Älteren, die trotz einiger gerümpfter Augenbrauen gute Miene zum guten Spiel machten. Dabei war das Näherkommen vielfach auch wörtlich zu nehmen. Das Gedränge war seltsamerweise fast beängstigend; noch nie haben den Berichterstatter (Jahrgang 1925, Bartträger) in so kurzer Zeit so viele junge Leute auf die Füße getreten und sich dafür umgehend lieb und nett entschuldigt wie beim Altstadtfest, wenn auch in manchen Gesichtern von Alt-Teens und Jung-Twens der „Traue-niemandem-über30“-Look auch in der fröhlichen Atmosphäre nicht wich.

Man hat einander endlich mal sehen – fast möchte man sagen: fühlen – können; eine sehr reizvolle Erfahrung, wo doch, stark vereinfacht gesagt, die Menschen über 30 sonst daheim vor dem Fernseher sitzen und die unter 30 in ihren Lokalen und auf ihren Feten unter sich bleiben. Und wenn man einander nur zufällig einmal sieht, kann man einander bestenfalls auch nur zufällig verstehen.

Betrachtet man das Altstadtfest Hannover ’70 (von der Straßenkunst ist im Feuilleton dieser Ausgabe die Rede) vom Gesichtspunkt der Geselligkeit und der menschlichen Kontakte, so war es ein erfreulicher Erfolg.

Ob Festival und Straßenkunst auch den gewünschten Effekt erzielt haben bzw. erzielen werden, Hannover andernorts unter positiven Aspekten ins Gespräch zu bringen, wird die Zukunft zeigen. Hierzu werden – wenn sie ermittelt sind – die dem Stadtsäckel erwachsenden Kosten in Beziehung zu setzen sein, und dann sollte, wie gesagt, über weitere Feste nachgedacht werden. Den in einer überregionalen Sonntagszeitung verkündeten Unsinn, „für eine Million Mark“ habe Hannover die „Fröhlichkeit gekauft“, kann man schweigend übergehen.

Zitiert nach: Experiment Straßenkunst, S. 45.


Süddeutsche Zeitung (5.9.1970)

Der Reiz des Altstadtfestes lag vor allem in der Geste des Nichtkommerziellen, und vielleicht rührte daher gerade sein großer Erfolg, sein aggressionsloser, heiterer Verlauf, seine wirkliche, fast mediterrane Festatmosphäre. Jazz und Poetry vom Lastwagen herab, ein Salonorchester, Laientheater, Hillbilly-Gruppen, Gaukler, Magier, Bänkelsänger, für nichts von alledem wurde Eintritt erhoben. All das fand ein ständig dankbares Riesenpublikum; denn allein am ersten Abend waren etwa 150000 Menschen in die Altstadt gekommen. Das Geschäft überließ man den Bier-, Wein- und Würstchenbuden. Die Wirte der anliegenden Kneipen konnten es nicht fassen, sie schwankten angesichts des Ansturms ständig zwischen Resignation und Übereifer. Man mag in der kostenlosen Unterhaltung des Volkes etwas Gönnerisches sehen, eine Public-Relations-Intention, die Hannover um jeden Preis attraktiver machen soll: Panem et circenses. Angesichts des 38-Millionen-Etats für Kulturelles und eines Sozialetats von 120 Millionen aber nehmen sich die jährliche Million für die Straßenkunst und die 40°000 Mark für das Altstadtfest angemessen, aber nicht verschwenderisch aus. Der überraschende Erfolg dieses Auftakt-Wochenendes ist jedenfalls unbestreitbar.

Zitiert nach: Experiment Straßenkunst, S. 46.



Leserbriefe an die Lokalredaktion der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung

Leserbrief vom 8.9.1970

Den Kritikern des Altstadtfestes kann man nur dankbar sein, und man kann dies nicht laut genug und riesengroß an die Öffentlichkeit bringen. Außer Gestank, Lärm, Unrat und totaler Unfähigkeit war nichts, was das Herz erfreute. Die Herren, die hier noch von Kunst reden, die sollte man doch wegen Unfähigkeit und Vergeudung von Steuergeldern zum Teufel jagen. Mit einem solchen Fest kann man den allerletzten Interessenten nur vertreiben; höchstens ein paar langhaarige Affen anlocken. Erfreulich war an diesem Sonnabendabend nur die Robert-Stolz-Sendung im Fernsehen, die für diesen Dreck reichlich entschädigte.

Zitiert nach: Experiment Straßenkunst, S. 46.

Leserbrief vom 10.9.1970

Wir „Alten“ über 40! Es ist noch gar nicht so lange her, da feierten wir jeden Tag ein Fest, das mehr als eine Million verschlang. Erinnern wir uns nicht mehr an brennende Häuser, weinende Menschen, an Trümmer und Trostlosigkeit? Wo war da unser Protest?

Wahrscheinlich ist uns in dieser Zeit echte Fröhlichkeit abhanden gekommen. Seien wir darum dankbar denjenigen, die sie uns – wenn auch auf ungewöhnliche Art – wieder nahe bringen wollen!

Zitiert nach: Experiment Straßenkunst, S. 46.

Fragen zum Film
  • Was wird als Motiv für die Durchführung des Experiments Straßenkunst in Hannover dargestellt?

  • Was ist das Neue an der im Film gezeigten Straßenkunst gegenüber der traditionellen?
  • Warum lässt sich dies besonders gut filmisch darstellen?
  • Wie beurteilen Sie die Aussagen Oberstadtdirektor Neuffers über die Ziele des Experiments Straßenkunst?
  • „Die Kunst geht auf die Straße“ ist der erste Hannover-Film, in dem neben den Aussagen der „Stadtoberen“ auch die von Bürgern der Stadt und von Künstlern ein besonderes Gewicht erhalten haben. Welche Wirkung geht hiervon aus?
  • Welchen Eindruck vermittelt der Film über die Resonanz bzw. Akzeptanz der Straßenkunst in Hannover?
  • Welche Funktion hatte das Altstadtfest für die Straßenkunst?
  • Welche der gezeigten neuen Kunstwerke sind auch heute noch im Straßenbild präsent?
  • Welches „Gesicht der Stadt“ Hannover wird in „Die Kunst geht auf die Straße“ präsentiert?

Das könnte dich auch interessieren …