Der gewöhnliche Faschismus (1965)

Spielende Kinder, Liebespaare, Bilder aus dem Alltag in Moskau, Warschau und Berlin. Sympathische, liebenswerte und glückliche Menschen. Sahen jene Deutschen der dreißiger Jahre, die zu Barbaren wurden, anders aus? Wie werden aus zivilisierten Menschen gewöhnliche Faschisten?

Der russische Regisseur Michail Romm enthüllt vor allem die alltäglichen Aspekte des Nationalsozialismus. In 18 Kapiteln geht er der Frage nach, wie der todbringende Wahn entsteht, was ihm vorausgeht – zu seiner Zeit ein neuer, persönlicher, fast intimer Zugang. Durch das Unspektakuläre der Beispiele lässt er vielfältige Assoziationen zu.

Die Gliederung gestaltet sich folgendermaßen: (1)
Kapitel I: keine Überschrift
Kapitel II: ‚Mein Kampf’ oder Wie man Kalbshäute bearbeitet
Kapitel III: Einige Worte über den Autor
Kapitel IV: Zur gleichen Zeit…
Kapitel V: Die Kultur des Dritten Reichs – Zitat: ‚Jeder beliebige Feldwebel kann
Lehrer werden, aber nicht jeder Lehrer Feldwebel.’ Adolf Hitler
Kapitel VI: Die große nationale Idee in Aktion
Kapitel VII: Ein Volk. Ein Reich. Ein Führer
Kapitel VIII: Über mich selbst – Zitat: ‚Meine Mutter war eine einfache Frau, aber sie
hat Deutschland einen großen Sohn geschenkt.’ Adolf Hitler
Kapitel IX: Die Kunst – Zitat: ‚Schauspielern und Künstlern muss man hin und wieder
mit dem Finger drohen.’ Adolf Hitler
Kapitel X: ‚Wir gehören Dir…’
Kapitel XI: Doch es gab auch ein anderes Deutschland
Kapitel XII: ‚Mit der Masse muss man umgehen wie mit einer Frau.’ Adolf Hitler
Kapitel XIII: ‚Führer befiehl – wir folgen’ – ‚Zum Wohle des deutschen Volkes müssen
wir alle 15 bis 20 Jahre nach Kriegen streben.’ Adolf Hitler
Kapitel XIV: Der gewöhnliche Faschismus


aus: Josef Weidl: „Bilder als Zeugen gegen sich selbst“? Vom Schreiben und Umschreiben der Geschichte im historischen Kompilationsfilm. Unversität Wien 2013, S. 56

Regie: Michail Romm
Drehbuch: Juri Chanjutin, Michail Romm
Kamera: German Lavrov
Schnitt: Valentina Kulagina, Michail Romm
Musik: Alemdar Karamanov
Format: 35mm, s/w 138 Min.
Produzent: Mosfilm UdSSR 1965
Laufzeit: 123 Min.

Verleih:
Progress Film-Verleih GmbH
Immanuelkirchstraße 14, Berlin Tel.:+49 030 240 03-0, Fax: +49 030 240 03-499, verleih@progress-film.dewww.progress-film.de

Preise: Spezialpreis der Jury, Leipzig 1965

In seiner Diplomarbeit analysiert Josef Weidl den Film DER GEWÖHNLICHE FASCHISMUS. Er beginnt seine Analyse mit der Frage „Ein Film zum Nachdenken? (a.a.O.: S: 49 – 75)
Hier zitieren wir das Fazit seiner Analyse:

Unvermeidliches Lachen gegen die Vermassung –‐ Fazit zu DER GEWÖHNLICHE FASCHISMUS

Am Ende der Ausführungen zu Romms DER GEWÖHNLICHE FASCHISMUS sollten die Besonderheiten des Films deutlich herausgearbeitet worden sein: Als Regisseur, der aus dem Spielfilm kommt, unterwirft er auch seinen Dokumentarfilm über den Nationalsozialismus gewissen Regeln aus diesem Genre. Der Film ist in Kapitel unterteilt, der Aufbau ist nicht vornehmlich chronologisch, sondern passt sich einer vorgegebenen Dramaturgie an. Durch den Einsatz der Medien Schrift, Ton, Musik und Kommentar weißt er den Bildern bereits eine gewisse Lesart zu. Der Kommentar, der im Original von Romm selbst, von den Schauspielern Martin Flörchinger in der DDR-Fassung und Martin Held in der BRD-Fassung gesprochen wird, umfasst mehrere Metaebenen. Ein besonderer Fokus liegt zweifelsohne auf der Komik, die unter anderem durch das Überladen von Bedeutung scheinbar alltäglicher Dinge geschaffen wird. Daneben bedient sich Michail Romm verschiedener Verfremdungstechniken wie der Wiederholung oder dem Anhalten des Films, um gewünschte Reaktionen beim Zuschauer zu verstärken oder einzelne Elemente einer Sequenz nochmals hervorzuheben. Romm selbst berichtet, dass er sich zunächst irritiert über das Lachen der Zuschauer zeigte (vgl. Romm 1966, S. 5). Angesichts des durchkomponierten Kommentartextes erscheint diese Irritation zweifelhaft. Jedoch bemerkt der Regisseur:

„Dann wurde mir klar, daß dieses Lachen unvermeidlich war, da das Dokumentarmaterial sich selbst entlarvte. Heute kann man nur lachen, wenn man sich das Material ansieht, das die Kameraleute des Dritten Reichs mit der Absicht aufnahmen, den Hitlerismus zu glorifizieren“ (Romm 1966, S. 5).

Dennoch, und das hat die Analyse der Sequenz aus dem Warschauer Ghetto deutlich gemacht, gibt es in DER GEWÖHNLICHE FASCHISMUS Bilder, die einer anderen Art des Kommentars bedürfen. Romm versteht es, in solchen Momenten Ironie und Diffamierung zurückzunehmen und trotzdem den Duktus des Films nicht gänzlich zu verändern. Der Kommentar beobachtet nach wie vor Details, macht den Zuschauer darauf aufmerksam und doch nimmt er ihn gerade an dieser Stelle noch mehr als sonst in die Pflicht, mit dem Regisseur „nachzudenken“. Und somit arbeitet Romm während des ganzen Films der Vermassung des Nationalsozialismus entgegen, wie auch Wilhelm Roth konstatiert:

„Romm spricht jeden Zuschauer als einzelnen an, er vertraut der Vernunft und Empfindungsfähigkeit des Individuums. Das ist seine Methode und sein Programm: Dem Faschismus wirft er ja gerade vor, daß er den Menschen nicht als Individuum sehe, sondern als einen manipulierbaren Teil einer Masse“ (Roth 1982, S. 122).


aus: Josef Weidl: „Bilder als Zeugen gegen sich selbst“? Vom Schreiben und Umschreiben der Geschichte im historischen Kompilationsfilm. Unversität Wien 2013, S. 74/75

Anzuzeigen ist das jüngst erschienene und ungewöhnliche Werkbuch „Der gewöhnliche Faschismus“, über Michail Romms aufsehenerregenden gleichnamigen Kompilationsfilm aus historisch überliefertem Bild- und Fotomaterial, das von ihm analysiert und kommentiert wird. Zu seiner Weltkarriere startete der Film 1965 auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival unter außergewöhnlichen Umständen, von denen hier und vor allem im Buch die Rede ist. Um die Vorgeschichte, Entstehung, Verbreitung und die Aufnahme des Films, aber auch des vorliegenden Buches, das diese Themenfelder dokumentiert und analysiert, ranken sich zahlreiche und wiederum ungewöhnliche Geschichten. > weiter

Gerd Kaiser in: Das Blättchen (13.04.2010)
 
 

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