Ein Mittwoch im Juni vor 20 Jahren: Volksaufstand, Arbeiterrevolte oder Agentenputsch? (1973)

Inhalt

Lutz Lehmanns 1973 vom Norddeutschen Rundfunk produzierte Dokumentation setzt sich mit drei unterschiedlichen Interpretationen der Ereignisse des 17. Juni auseinander:        

  1. der offiziellen SED-Propaganda-Doktrin vom Umsturzversuch durch West-Berliner Geheimdienste
  2. der verklärenden Westgeschichtsschreibung vom DDR-weiten Aufstand für Freiheit und Demokratie
  3. der Bewertung der Vorgänge im wesentlichen als Protestbewegung der Arbeiterschaft gegen die Normerhöhungen

Abschließend wird die Frage aufgeworfen, welche Möglichkeiten im Vorfeld und im Verlauf des 17. Juni von westlicher Seite hätten wahrgenommen werden können, um den Aufstand und seine Niederschlagung zu verhindern. Lehmann befragt Zeitzeugen und Sachverständige und verwendet Archiv-Foto- und -Filmmaterial, vor allem West-Wochenschauen und DDR-Fernsehen, die ausschnittweise mit Originalkommentar gezeigt werden.


Der Film „Ein Mittwoch im Juni“ ist auch in der Filmliste des Projektes „17. Juni 1953“ der Bundeszentrale für politische Bildung (http://www.17juni53.de/material/filmliste_2.html) aufgeführt.

Filmtitel: Ein Mittwoch im Juni. Vor 20 Jahren: Volksaufstand, Arbeiterrevolte oder Agentenputsch?
Regie: Lutz Lehmann
Mitarbeit: Jürgen Drossart
Kamera: Hans Jacob
Ton: Jürgen Jannsen, Norbert Kinsky
Schnitt: Elke Düring
Produktion: NDR
Produktionsleitung: Wolfgang Kühnlenz
Redaktion: Ludwig Schubert
Land: Bundesrepublik Deutschland 1973
Lauflänge: 58:51 Min

Nr.
Inhalt
Länge
Zeit im Film

1

Einführung, moderiert von Lutz Lehmann. Bericht über die Schwierigkeit der Zeugenbefragung zum 17. Juni 1953 im Westen. Im Hintergrund: Das zerbrochene Amtsschild des Staatspräsidenten der DDR.
0.54
0.00 – 0.54

2

Originalbericht Deutsche Reportagefilm über die Demonstration und Ausschreitungen in Berlin am 17. Juni. Eingeschoben: Vorspann. Der Originalbericht wird durch Lehmann kommentiert: „Ursache, Ablauf und politische Bedeutung des Ereignisses sind umstritten, nicht nur zwischen West und Ost.“ 1.42 0.54 – 2.36

3

Texttafel: „Der 17. Juni: Ein Agentenputsch?“ SED-Propagandadoktrin zum 17. Juni: Putschversuch westlicher Agenten (Tag X). Beitrag des DDR-Fernsehens von 1967 über die Einordnung des 17. Juni in die imperialistische „Roll-back-Strategie“ mit Hinweis auf den Koreakrieg (Wochenschaumaterial). Originalbericht Deutscher Fernsehfunk Ost-Berlin: Indizien für die Putsch-Theorie, den „erste(n) konterrevolutionäre(n) Frontalangriff gegen die DDR“, Hinweise auf „den faschistischen Charakter des Aufstandes“. Verurteilungen durch die DDR-Justiz. Interviews mit den ehemaligen Angeklagten Horst Hertel und Werner Dyballa zu deren Beteiligung an den Ausschreitungen in Ost-Berlin. Untermauerung der These vom Tag X durch Schauprozesse. Zusammenfassender Kommentar durch Lutz Lehmann zur „politische(n) Legende“ eines „von langer Hand vom Westen vorbereiteten Tag X“ und Überleitung zum nächsten Filmabschnitt. 10.13 2.36 – 12.49

4

Texttafel: „Der 17. Juni: Ein Volksaufstand?“ Originalbericht Wochenschau Blick in die Welt über den Aufstand in Ost-Berlin. Veranschaulichung des Aufstandsgebietes anhand einer Karte. Solidaritätskundgebungen, Arbeitsniederlegungen und Bürobesetzungen in der Provinz und anderen Städten (Leipzig, Jena, Rathenow, Magdeburg). Niederschlagung des Aufstandes durch sowjetischen Panzer, Verhängung des Ausnahmezustandes. Interview-Szenen mit Fritz Schorn (Leuna), Harry Christ (Ost-Berlin) und Richard Berendt (Leipzig). Trauerfeierlichkeiten in West-Berlin am 23.6.1953. Redemitschnitte Konrad Adenauer, Jakob Kaiser und Ernst Reuter. Zusammenfassender Kommentar durch Lutz Lehmann zum „Heldenepos vom Volksaufstand für die Freiheit“ und Überleitung zum nächsten Filmabschnitt. 7.46 12.49 – 20.35

5

Texttafel: „Der 17. Juni: Eine Arbeiterrevolte?“ Originalbericht Neue Deutsche Wochenschau. Frage nach politischen und ökonomischen Ursachen des Aufstandes: Rohstoffmangel, Belastungen durch Reparationen; Beschluss zum „Aufbau des Sozialismus“ auf der Zweiten Parteikonferenz der SED im Juni 1952: stalinistische innenpolitische Phase der DDR (Enteignungen, politische Verfolgung), Flüchtlingsströme in den Westen. Auf Stalins Tod folgen die Verkündung des „Neuen Kurses“ und Konzessionen an die ostdeutsche Bevölkerung, aber auch die Erhöhung der Arbeitsnormen. Interview Prof. Arnulf Baring zur Frage der Rechtmäßigkeit dieser Arbeitsnormen. Beginn der Arbeiterproteste in der Stalinallee. Interview Heinz Brandt (ehemals SED-Bezirksleitung). Protestmarsch vom 16. Juni. 4.31 20.35 – 30.06

6

Interviews mit Arbeitern des 17. Juni über ihre politischen Absichten: Werner Kalowski (West-Berlin), Harry Christ (Ost-Berlin), Walter Witt (Ost-Berlin), Richard Behrendt (Leipzig). Politische Radikalisierung der Proteste am 17. Juni. Originalbericht Wochenschau Blick in die Welt. Prof. Arnulf Baring zur Niederschlagung des Aufstandes durch die sowjetische Besatzungsmacht und zur Frage Streikbewegung oder Volksaufstand. 8.11 30.06 – 38.17

7

Texttafel: „Der 17. Juni: Eine verpaßte Chance?“ Originalbericht Neue Deutsche Wochenschau. Frage nach den Folgen des 17. Juni und nach der spontanen Ausbreitung der Proteste. Interviews mit Fritz Schorn und Richard Behrendt. Rolle des RIAS bei den Ereignissen des 17. Juni, Rundfunk-Ansprache des DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski. Interview Scharnowski. Interview mit Eberhard Schütz, 1953 Programmdirektor des RIAS, über die uneinheitliche Linie des RIAS-Rundfunkprogramms am 17. Juni. Originalbericht Wochenschau Blick in die Welt. Eberhard Schütz zur Möglichkeit eines alliierten Eingreifens am 17. Juni. Fotodokumente: junge Männer gegen sowjetische Panzer. Werner Kalkowski und die Wochenschau-Kameramänner Erich Onasch und Helmut W. Sonntag über organisierte Randale von Westberliner Halbstarken. Frage nach der Rolle antikommunistischer Organisationen und Geheimdienste im Verlauf des 17. Juni: Der Journalist Hans Georg Schulz über Einstiegsversuche von Westberliner Untergrundorganisationen (Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit) in die Arbeiterprotestbewegung und Abgrenzung solcher Initiativen gegen die Leitlinien der offiziellen westdeutschen und US-amerikanischen Politik. Werner Kalkowski über seine Verurteilung als Westagent. Urteil über die harten Reaktionen der SED-Justiz. 14.15 38.17 – 52.32

8

Abschließende Bewertungen des 17. Juni durch Prof. Alfred Grosser (Paris) und Prof. Richard Löwenthal (Berlin). Abspann. 6.19 52.32 – 58:51

Jugendliche Randalierer:
Horst Hertel und Werner Dyballa (Sequenz 03)

Beteiligte an den Arbeiterprotesten:
Fritz Schorn (Leuna) (Sequenzen 04, 07)
Harry Christ (Ost-Berlin) (Sequenzen 04, 06)
Richard Berendt (Leipzig) (Sequenzen 04, 06, 07)
Werner Kalowski (West-Berlin) (Sequenzen 06, 07)
Walter Witt (Ost-Berlin) (Sequenz 06)

Der Westberliner Arbeiter / angebliche Provokateur Werner Kalkowski (Sequenz 07)

Der DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski (Sequenz 07)

Der RIAS-Programmdirektor Eberhard Schütz (Sequenz 07)

die Wochenschau-Kameramänner Erich Onasch und Helmut W. Sonntag (Sequenz 07)

Sachverständige:
Prof. Arnulf Baring (Sequenzen 05, 06)
Der Journalist Hans Georg Schulz (Sequenz 07)
Prof. Alfred Grosser (Paris) und Prof. Richard Löwenthal (Berlin) (Sequenz 08) 

Lutz Lehmanns als systematische Untersuchung der im Titel verschlagworteten Thesen angelegter Film gliedert sich in vier Abschnitte, die jeweils durch Texttafeln eingeleitet und auf diese Weise voneinander abgegrenzt werden. Im Mittelpunkt steht weniger eine nacherzählende Darstellung des 17. Juni als dessen kontroverse historische Interpretationen. Mit dieser Herangehensweise erreicht Lehmann zunächst zweierlei:

  1. wird die Funktionalisierung des Filmmaterials im Kontext seiner Verwendung in den zeitgenössischen Wochenschauen aufgezeigt. Am augenfälligsten gelingt dies, wenn das gleiche Material mit unterschiedlicher Kommentierung vorgeführt wird.
  2. wird gezeigt, dass mit den zur Verfügung stehenden Filmquellen kein Abbild der historischen Realität erstellt werden kann. Eine kritische Distanz zum Gezeigten bleibt stets gewahrt.

Bei der Auseinandersetzung mit den Interpretationen des 17. Juni erteilt Lehmann der SED-Propaganda zwar eine klare Absage, er bewertet jedoch auch die Volksaufstands-These, wie sie in der BRD gepflegt wurde und wird, dahingehend kritisch, dass er der Theorie von der Arbeiterrevolte den Vorzug gibt. Diese Distanz zum offiziellen westdeutschen Geschichtsbild macht bereits Lehmanns Eingangs-Moderation spürbar, in der er das zerbrochene Amtsschild Wilhelm Piecks, das im Hintergrund sichtbar ist, in Bezug zu „fanatischen Antikommunisten“ setzt, die an der Eskalation des 17. Juni mitgewirkt hätten. Um die Ausweitung und politische Radikalisierung der Arbeiterproteste zu erklären, geht er der Frage nach, inwieweit aggressive Agitation aus dem West-Berliner Untergrund oder sogar tatsächliche Intervention westlicher Geheimdienstler die Vorgänge befördert haben könnten, und zieht eine klare Trennlinie zwischen den Massenprotesten und den Bürgerkriegs-ähnlichen Szenen, die sich nach dem Aufmarsch der Sowjet-Panzer im Zentrum Berlins ereigneten. Lehmann sieht bei letzteren ausschließlich die genannten „fanatischen Antikommunisten“ aus dem Westen am Werk, bleibt aber einen Beweis für die Berechtigung dieser Annahme schuldig.

Nichtsdestotrotz zeichnet sich „Ein Mittwoch im Juni“ durch seine größtenteils schlüssige Argumentation und die Differenziertheit der Darstellung aus. Der von Lehmann eingenommene Standpunkt prädestiniert seine Dokumentation zu einer vergleichenden Vorführung mit den Filmen Peter Ottos („ Jene Tage im Juni“) und Joachim Paschens („ Der Einheit der Nation verpflichtet“).

(…) Eine dritte Funktion von Zeitzeugen-Aussagen läßt sich an einem weiteren Film von Lutz Leh­mann zeigen: »Ein Mittwoch im Juni vor 20 Jahren: Volksaufstand, Ar­beiterrevolte oder Agentenputsch?« (…) Auf der Grundlage von umfangreichem Film- und Fotomateri­al, der Befragung von Zeitzeugen und Wissenschaftlern (Arnulf Baring) wer­den Erinnerungen und Hypothesen zum Ablauf und zur Interpretation des 17. Juni 1953 vorgestellt. Das im Film ver­wendete Wochenschaumaterial ist weitgehend auch aus anderen Produk­tionen bekannt, inzwischen in Vollstän­digkeit in einem Bildplattenprojekt des IWF Göttingen zugänglich. Aber die Bilder allein (auch nicht in annähernder Vollständigkeit!) liefern eben keine Abbildung historischer Realität. Das Besondere von Lehmanns Film liegt darin, daß er die kontroversen Interpre­tationen des Aufstands und die Schwie­rigkeiten der Rekonstruktion (Zeitzeu­gen-Aussagen) selbst zum Thema macht. Damit wird dreierlei erreicht:

  1. Auf der Ebene des Mediums Film wird die Funktionarisierung der Bil­der gezeigt, am deutlichsten in den
    Fällen, in denen die gleichen Bilder in verschiedenen Zusammenhängen (neu) kommentiert werden (z.B. Ab­
    transport eines Verletzten auf einer Bahre).
  2. Auf der Ebene historischer Rekon­struktion wird gezeigt, daß ein von der Verfügbarkeit von Quellen ab­
    hängiges Konstrukt nicht Abbild hi­storischer Realität ist und es nicht sein kann. Der in vielen als »Doku-mentation« bezeichneten Filmen er­weckte Anschein des »so war es« wird vermieden.
  3. Für den konkreten Fall des 17. Juni 1953 heißt dies, daß die zeitgenössi­schen Interpretationen Ost (»Agen­tenputsch«) und West (»Volksauf­stand« für die Freiheit) relativiert werden, daß die Interpretation als »Arbeiterrevolte« aber ebenfalls Fragen offen läßt, insofern die Aus­sagen der Zeitzeugen über die Er­weiterung der ursprünglichen Streik­forderungen zu politischen Forde­rungen stehen bleiben und der Inter­pretation des jeweiligen Zuschauers bedürfen. Auch der abschließende Filmteil mit der Frage nach der »ver­paßten Chance« liefert keine fertige Antwort, sondern läßt zwei teils kontroverse Aussagen nebeneinan­der stehen (zu Einzelheiten und Be­wertung des Films vgl. Begleitmate­rial dazu in der Landesmedienstelle Hannover).

Die Zeitzeugen-Aussagen helfen in diesem Fall, Geschichte als Konstrukt zu begreifen, das ein naives »so war es« unmöglich macht und den Abbildungs­charakter der Bilder dementiert. (…)


aus: Irmgard Wilharm: Zum Stellenwert von Zeitzeugen-Aussagen im historischen Unterrichtsfilm. In: FWU Magazin 5/1993, S. 12

Didaktisch-methodische Hinweise

Voraussetzung für den Einsatz im Unterricht sind Kenntnisse der Nachkriegsordnung bis zum Entstehen der beiden deutschen Staaten. Im Rahmen des Themas `Deutsche Geschichte nach 1945´ kann Lehmanns Film durchaus als Einstieg verwendet werden, da er Fragen provoziert und damit eine gute Diskussionsgrundlage liefert.
Als inhaltliche Schwerpunkte bei der Beschäftigung mit dem Film wären u.a. anzusprechen:

  • Wirtschaftsplanung in der DDR / erster Fünfjahresplan 1951-55: Auswirkungen des vorrangigen Ausbaus von Schwerindustrie auf Kosten der Konsumgüterproduktion
  • Hintergründe zu den Arbeitsnormen, den Normenerhöhungen und dem Neuen Kurs der SED
  • die Löwenthal-These (Sequenz 08) vom 17. Juni als „verpaßter Gelegenheit“ (aussenpolitische Orientierungsphase nach Stalins Tod im März 1953, westliche Reaktionen auf sowjetische Gesprächsangebote)
  • Langfristige Auswirkungen des 17. Juni (Festigung des Ulbricht-Regimes, Verhältnis zwischen DDR und BRD)
  • Unter mediendidaktischen Gesichtspunkten könnten beispielsweise zur Diskussion gestellt werden:
  • die Veränderungen der Bildwirkung von historischem Filmmaterial in Abhängigkeit von dem verwendeten Ton bzw. Kommentar
  • die Verwendung von Standbildern an Stelle von bewegten Bildern (Sequenz 06)

An geschichtstheoretischen Fragestellungen böten sich an:

  • In welcher Weise entstehen historische Interpretationen und wie verfestigen sie sich zu `Tradition´?
  • Inwiefern unterscheidet sich die bewusst, mit kritischer Distanz und unter Offenlegung ihrer Lücken bzw. Ungeklärtheiten betriebene Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse von einer historischen Darstellung, die sich als Abbild von Realität im Sinn des `so war es´ versteht?

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