Der Rätekongress im Dezember 1918

In der Revolution von 1918 ging es vor allem um zwei Probleme, die eng miteinander verbunden waren: Sozialisierung der Wirtschaft und politische Neugestaltung des Reiches, d. h. um die Alternative „Rätesystem oder Parlamentarismus“, d.h., es ging um zwei unterschiedliche Demokratiemodelle, nicht um Demokratie oder Diktatur!

Beide Probleme wurden auf dem Kongress von Vertretern aller Arbeiter- und Soldatenräte diskutiert, der vom 16. bis 20. Dezember in Berlin stattfand. Max Cohen, Sprecher der SPD, vertrat die Auffassung, dass nur die baldige Wahl eines verfassungsgebenden Parlaments („Nationalversammlung“) Deutschland vor dem Ruin retten könne. Ernst Däumig (Revolutionäre Obleute, linker Flügel der USP) sprach dagegen; er forderte eine revolutionäre Räteregierung auf nationaler Ebene.

Däumig setzte sich nicht durch, denn der Rätekongress bestand überwiegend aus Sozialdemokraten, die oft auf die von Däumig geschilderte Art in die Arbeiter- und Soldatenräte gekommen waren. Die Mehrheit stimmte dem Antrag Cohen zu, am 19.1.1919 die Nationalversammlung zu wählen, und bis dahin alle Gewalt dem „Rat der Volksbeauftragten“ zu übertragen.

„Nun gibt es aber, wie die Dinge sich bisher entwickelt haben, eine Voraussetzung, damit wir wieder produktionsfähig werden. Das ist nur möglich, wenn unser staatlicher Mechanismus, der einigermaßen in Unordnung geraten ist, wieder richtig funktioniert, wenn wir eine Zentralgewalt im Reiche bekommen, die in der Lage ist, den inneren und äußeren Zerfall des Reiches aufzuhalten.

(…) Aber eine starke. Zentralgewalt kann nur dann sicheren Halt und eine starke moralische Autorität haben, wenn sie auf dem festen und breiten Fundament des allgemeinen Volkswillens aufgebaut ist. Es kann keine Zentralgewalt mit starker Autorität, die sich die nötige Beachtung im Innern und im Auslande sichert, geben, wenn sie nicht von der überwiegenden Mehrheit deutschen Volkes getragen ist.

Parteigenossen, Kameraden, es gibt nach meiner festen Überzeugung nur ein einziges Organ, das diesen Volkswillen feststellen kann: das ist die allgemeine deutsche Nationalversammlung, zu der jeder Deutsche, gleichviel ob Mann oder Frau, in allen den Gebieten, die zu Deutschland gehören wollen, wählen kann.

Wie man auch über die A.- und S.-Räte denken mag (…) in jedem Falle drücken die A.- und S.-Räte nur einen Teilwillen, niemals aber den Willen des ganzen Volkes aus. Diesen festzustellen, darauf kommt es an.

Parteigenossen, man kann eben Sozialismus durch Gewalt und durch Dekrete nicht einführen; das hat uns das russische Beispiel gezeigt. Sozialisierung ist ein organischer Entwicklungs- und Umbildungsprozess, bei dem neue Wirtschaftsformen neben werdenden und auch alten Formen zusammen existieren werden. Wenn man aber diesen Entwicklungsprozess

Nicht in sorgsamster Weise fördert, kommt die Katastrophe (…)

Dazu kommt noch: wenn die Produktion stockt, wie bei uns, wenn weder Rohstoffe, noch Betriebe vorhanden sind: ja, was soll man da eigentlich sozialisieren? Da ist das plötzliche Sozialisieren der helle Wahnsinn, da gibt es gar nichts zu sozialisieren! (…)

Es genügt, wenn sich die Mehrheit des deutschen Volkes für die Sozialisierung ausspricht, weil sie sie eben für das kleinere Übel hält, für die Form, bei der das deutsche Volk am besten Leben kanndie Form, bei der das deutsche Volk am besten leben kann. (…)

Wir Sozialdemokraten müssen uns endlich einmal auf das entschiedenste und nachhaltigste wehren, dass unsere reine, klare, gute sozialistische Gedankenwelt durch bolschewistische Verschrobenheiten sabotiert und diskreditiert wird. (Lebhafter Beifall.) Das kann nicht so weiter gehen, wenn nicht unsere Sache den größten Schaden im Lande und in der ganzen Welt erleiden soll. Wenn wir nicht den ganzen guten Namen aufs Spiel setzen wollen, dann muss es endlich einmal heißen – und das wird hoffentlich der Beschluss dieser Versammlung beweisen -: Halt mit dieser bolschewistischen Sabotage gegen den großen Gedankeninhalt der sozialistischen, demokratischen ldeen. (…)

Ich meine also, die A.- und S.-Räte hatten ihre Berechtigung und werden ihre Berechtigung auch weiter haben. Nur, glaube ich, müssen sie an der Zentralstelle, die die Verfassung des deutschen Reiches schaffen wird, der Nationalversammlung Platz machen. Aber dass sich Formen finden werden unter dem Gesichtswinkel der Produktionsentwicklung, wo

Arbeiterräte – Soldatenräte wird es ja dann nicht geben – einen Platz einnehmen, auf dem sie ungeheuer viel Gutes stiften können, da die Bedeutung der Arbeiterklasse im zukünftigen Deutschland ja immer mehr wächst, immer stärker werden muss, darüber ist für mich gar kein Zweifel.“


aus: Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. Vom 16. bis 21. Dezember 19188 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, Berlin o. J. (1919), Rede Cohens: Spalte 209 ff


Fragen zur Rede:

  • Worin sieht Cohen den Volkswillen ausgedrückt? Was drücken demgegenüber die Räte aus?
  • Warum kann nach Cohens Meinung jetzt nicht sozialisiert werden?
  • Was versteht Cohen unter-Bolschewismus? Wie stellt er die Sozialdemokratie dar?
  • Welchen Platz will Cohen den Räten in der Innenpolitik noch zugestehen?
  • Welche Absicht steckt dahinter, wenn Cohen schnelle Wahlen zur Nationalversammlung fordert?

 

„Der Rausch der ersten Revolutionstage ist sehr schnell verflogen. Alle die Bedenklichkeit, alle die Rückständigkeit und zähe Anhänglichkeit an die alten Ideologien ist noch sehr stark vorhanden. (…)

Kein einziges Revolutionsparlament der Geschichte hat einen so nüchternen, hausbackenen, ja, ich sage, philiströsen Geist aufzuweisen, wie dieses erste Revolutionsparlament, das hier zusammengetreten ist.

Aber in einem ähnelt dieses Revolutionsparlament den Revolutionsparlamenten aller Zeiten: in der unglaublichen Vertrauensseligkeit und Selbstbespiegelung darüber, wie herrlich weit man es doch gebracht habe, und in der Verkennung der ehernen Gesetze der Geschichte, wie gerade Revolutionen unerbittlich weiter schreiten.

(…) Wenn die Geschichte dieser Revolutionswochen in Deutschland geschrieben werden wird,, dann wird man sich lächelnd fragen: waren denn die Leute so blind, dass sie nicht sahen, dass sie sich selbst den Stick um den Hals legten?! Denn das muss doch jedem Klardenkenden einleuchten, dass die jubelnde Zustimmung zur Nationalversammlung gleichbedeutend ist mit einem Todesurteil für das System, dem sie jetzt angehören, für das Rätesystem- (Sehr richtig! Und Unruhe.) Und wenn Sie die Leidenschaft haben, einen politischen Selbstmörderclub darzustellen, ich lasse Ihnen das Vergnügen, ich für meinen Teil danke dafür.

Wie sind in Deutschland die Arbeiterräte entstanden?- Sie entstanden in den großen Streikbewegungen der letzten Jahre, in denen wir, die wir von jeher die erbittertsten .Gegner des Krieges gewesen sind (…) die politisch treibende Kraft gewesen sind. Wir haben in den Großbetrieben die Leute, die unserer Überzeugung waren, in jenen Zeiten unter großen Gefahren bestimmt, die Rolle des Arbeiterrates zu spielen. Wir haben in den letzten Wochen vor Ausbruch der Revolution, als es uns durch eifrige, aber auch gefährliche Agitation in den Berliner Kasernen gelungen war, Kameraden, Genossen zu gewinnen, die gleich uns mitarbeiten wollten an dem Sturze dieses blutgefleckten Regimes, wir haben da wieder, natürlich illegal, einen provisorischen Arbeiter- und Soldatenrat gebildet und haben unsere Kundgebungen, unsere Flugblätter, die wir in den Kasernen verteilten, in denen die Soldaten aufgefordert wurden, nicht auf ihre Brüder und Mütter zu schießen, alle diese Vorbereitungen unterzeichnet: Der Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrats.

Und was war unser Los? Nicht allein, dass die politische Polizei hinter uns her hetzte, nicht allein, dass das Oberkommando in den Marken (…) alle Machtmittel gegen uns anwandte -, nein, die eigenen Klassengenossen haben uns damals angegriffen und haben uns beschimpft und verleumdet. (…)
Als aber der 9. November kam und dank unserer Vorbereitungen in Betrieben und Kasernen die alte Welt hinweggefegt wurde, da strömten sie in Scharen herbei, um nur ja dieses Rätesystems teilhaftig zu werden.

(…) Die alte bürgerliche Demokratie mit ihrem Stimmzettel und ihrem Parlamenteln ist keine Ewigkeitserscheinung; sie hat ihre historische Bedingtheit, und wie der Sozialismus als neues Grundprinzip der Welt aufzieht, so ist selbstverständlich damit auch verbunden, dass dieser bürgerlichen Demokratie die proletarische Demokratie folgen muss: wie sie ihren organisatorischen Ausdruck in dem Rätesystem findet.

Genossen und Kameraden, Sie haben vorhin, als Genosse Cohen so warm für die Nationalversammlung plädierte und sogar für einen frühen Termin eintrat, zum Teil lebhaft applaudiert; Sie haben aber zweifellos damit Ihr eigenes Todesurteil gesprochen. Denn die Konzessionen, die vom Genossen Cohen und andern Leuten gemacht werden, dass ja, wenn die Nationalversammlung komme, das Rätesystem noch weiterbestehen könne, sind ja doch nur Schall und Rauch. Was soll denn dieses Rätesystem neben einem sich so breitspurig einnistenden parlamentarisch-demokratisch-bürgerlichen System, wie es die Nationalversammlung einmal im Gefolge hat! Eine leere Staffage, eine Marionette! Im Wirtschaftsleben werden mit Hilfe der Nationalversammlung und des Bürgertums die Gewerkschaften alten Stils natürlich die Arbeiterräte aus den Betrieben ganz schnell herausgedrängt haben. – Das machen sie heute schon und haben es schon gemacht. Ach nein, dieses beides läßt sich eben nicht miteinander vereinigen: man muss das eine oder andere wollen. (…)

Man spricht in Bezug auf das Rätesystem von Diktatur, und jeder Spießer malt sich darunter etwas Gruseliges vor; er denkt an Browningpistolen, an Maschinengewehre und andere Dinge. Ja, gehen wir doch einmal etwas zurück in der Geschichte der letzten Jahre. Wir haben unter der schmählichsten und schwersten Diktatur gestanden, die die Weltgeschichte jemals gekannt hat (…)

(…) Wer diese vielen Jahre der Militärdiktatur (…) vom 4. August 1914 ab durchlebt hat, der wird einen so bitteren Groll im Herzen haben, dass dieser niemals getilgt werden kann. Man muss diesen Groll allerdings empfunden haben, und man darf nicht mit Pauken und Trompeten in das Kriegslager hineinmarschiert sein. (…) Ich sage: nein, das war nicht unsere Aufgabe. (…)

Wie steht es denn überhaupt mit der Diktatur in Deutschland? Ich habe hier das statistische Ergebnis der Gewerbezählung vom Jahre 1907, das letzte Zahlenmaterial, das darüber zur Verfügung steht. Da zeigt sich bei allen Berufen, bei Land- und Forstwirtschaft, bei Industrie, Bergbau Baugewerbe, bei Handel und Verkehr, dass sich das arbeitende, werktätige Volk überall in der Mehrheit befindet und dass es bis jetzt unter der Diktatur einer ökonomisch überlegenen Minderheit gestanden hat. Und das soll jetzt durch die Nationalversammlung verewigt werden! Sie mögen mit dem Kopfe schütteln, so viel, wie Sie wollen, – die Nationalversammlung, die jetzt zusammenkommt, hat weder den Willen, noch die Energie, den Sozialismus Wirklichkeit werden zu lassen. Ach, sie wird Einrichtungen schaffen, aus denen die notwendigen Geldmittel herausgeholt werden können: Staatsmonopole und sonstige staatskapitalistischen Einrichtungen. Aber eine Wirtschaftsordnung, in der das Volk produktiv und als Konsument gleichberechtigt ist, davon wird keine Rede sein. Dazu muss schon eine Institution und eine ökonomische Einrichtung geschaffen werden, durch die tatsächlich die Besitzverhältnisse, aber auch die politischen Rechtsverhältnisse auf eine ganz andere Grundlage gestellt werden, und das kann eben nur mit Hilfe des Rätesystems geschehen

Und die Diktatur, die sich darin aussprechen soll: ja, ist es denn ein so großes Unglück, wenn den Leuten, die jetzt Jahrzehnte lang, ganz besonders während des Krieges, diese großen Reichtümer aus dem Blut und Schweiß des Volkes gesammelt haben, jetzt gesagt wird: Ihr habt genug genossen, jetzt kommen die an die Reihe, die von Euch gedrückt und ausgesogen worden sind. (…)

Und dann das Problem der Sozialisierung! Wie will man sozialisieren über die Köpfe der Arbeiter hinweg, ohne aktive Beteiligung der Arbeiter! Ich stehe auf dem Standpunkt, dass jetzt in dieser unsäglich traurigen Situation, in der sich unser Volk und Land befindet, man nicht drauflos experimentieren kann. (…) Das Sozialisieren muss natürlich nach einem großen, einheitlich angelegten Plane vor sich gehen. Es kann auch nur erfolgreich, wirksam und durchgreifend vor sich gehen, wenn wir Frieden haben, wenn wir wissen, wieweit unsere Landesgrenzen gehen, wenn wir wissen, welche Mittel wir noch zur Verfügung haben und welche weltwirtschaftlichen Beziehungen wir noch haben. Aber lassen Sie die Arbeiter bis dahin schlafen und nach der alten Manier sich um die wirtschaftlichen Dinge nicht kümmern, so wird aus der Sozialisierung nichts werden oder höchstens ein Staatskapitalismus, eine Monopolisierung gegen den Willen und unter dem Widerstand der Arbeiter. Nein, in dieser Zeit brauchen wir das Rätesystem in den Betrieben, damit die Arbeiter durch die Räte, zu denen sie Vertrauen haben, die Betriebe überwachen. Das muss gerade jetzt geschehen; denn die Unternehmer werden natürlich die Zwischenzeit bis zur Sozialisierung zu ihrem Vorteil auszunutzen suchen und deshalb ist es gerade jetzt sehr notwendig, dass die Arbeiter den Produktionsprozess nicht bloß in der Teilarbeit, in der sie stehen, kennenlernen, sondern dass sie den ganzen Betrieb überschauen.

Auch das ist nur möglich durch das Rätesystem.“


aus: Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. Vom 16. bis 21. Dezember 19188 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, Berlin o. J. (1919), Rede Däumigs: Spalte 225 ff.)


Fragen zur Rede von Ernst Deumig

  • Wie begründet Däumig die Notwendigkeit des Rätesystems?
  • Wie schätzt Däumig die Entwicklung ein, die bei einer Entscheidung für die Wahl zur Nationalversammlung eintreten würde?
  • Wo liegen die Unterschiede zu Cohen:

a) in Bezug auf die Nationalversammlung
b) in Bezug auf die Sozialisierung
c) in Bezug auf die Diktatur des Proletariats
d) in Bezug auf die Arbeiterräte?

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