Zeitgenössische Filmkritiken „Film ohne Titel“
Illustrierte Filmbühne Nr. 69 (E. S.)
Ende Januar wird in West-Berlin ein Film ohne Titel uraufgeführt, in dem ebenfalls die komplizierte Kriegs- und Nachkriegszeit eine zentrale Rolle spielt. In Frankfurt wird die Camera-Produktion im neuen Bieberbau an der Hauptwache gezeigt. Worum geht es? Ein Regisseur, ein Drehbuchautor und ein Schauspieler diskutieren darüber, wie ein Film in Nachkriegsdeutschland aussehen könnte und zu gestalten wäre. Der Zufall kommt ihnen dabei zu Hilfe. Denn Als das frische Bauernmädchen Christine (Hildegard Knef) und ihr zukünftiger Ehemann Martin (Hans Söhnker) ihnen einen Besuch abstatten, erzählt der Autor seinen Kollegen (in Rückblenden) die Liebesgeschichte der beiden. Der Regisseur glaubt, hier den idealen Stoff gefunden zu haben, obgleich alle Beteiligen die Situationen für den Film unterschiedlich interpretieren. Ein passendes Ende fehlt allen dreien. Daher müssen Christine und Martin selbst erzählen…
Es ist tatsächlich eine wechselvolle und komplizierte Beziehung, geprägt von den Ereignissen während des Krieges und in der Nachkriegszeit. Als bei der Hochzeit seines Bruders Jochen das Liebespaar Christine und Martin mit den Filmleuten zusammensitzen, sind sich alle einig, dass die hübsche Geschichte aus dem wirklichen Leben kein Thema für eine Verfilmung ist. Das Ganze wird nicht gemacht – und bleibt demnach ein Film ohne Titel.
Der Film weicht deutlich von den so genannten „Trümmerfilmen” ab; die Handschrift von Produzent und Drehbuchautor Helmut Käutner ist deutlich zu spüren. Dazu liefert Rudolf Jugert bei seiner ersten Regie eine solide handwerkliche Arbeit ab. Unter diesen Umständen hebt sich Film mit seinen tragikomischen Zügen wohltuend von anderen Produktionen dieser Zeit ab, in denen meist auf recht oberflächliche Weise versucht wird, die jüngste Vergangenheit zu „bewältigen”.
„Film ohne Titel“. Scherz, Satire, Ironie… Die Camera-Film dreht in Geiselgasteig.
Zehn Uhr abends Aufnahmebeginn – der Strom ist am Tage zu schwach. Nacht für Nacht höchste Anforderungen an alle Mitarbeiter, tagsüber wenig Stunden oft gestörten Schlafes … Und heute nacht „Bauernhochzeit!“ […]
Über dem bunten Wirbel der Regisseur Rudolf Jugert unerschütterlich, ruhig, innerlich gesammelt, in sich hineinschauend. Dann aber reckt er sich empor, Ausrufer eines großen Jahrmarktes, beide Arme ausgebreitet, weit offen die Handflächen und plötzlich springt der Funke über, zwei Fäuste sausen herunter – „los!“
Nur eins kann Igor Oberberg aus der Verflechtung mit seiner Kamera lösen – wenn er den Vorschlägen Rudolf Jugerts konzentriert zuhört, während der Regisseur wieder gespannt jede optische Improvisation seines Kameramannes verfolgt, bis sich dann beide in die Aufnahme stürzen.
Oberberg vital in Sprache und Bewegung, unermüdlich spähend, jede Tücke seiner optischen Hindernisbahn listig überwindend, ein Odysseus der Kamera.
Musik! Im Takt der Pauke drehen sich 100 Paare im Tanz, klatschen die Hände, schließt sich der Kreis um das selig daherschwebende Brautpaar. Bauernhochzeit! Wie ein Untier der Vorzeit bricht plötzlich der riesige Kamerakran in den Trubel ein. An den Wagenflanken spritzen die Paare auseinander, der lange Hals mit dem gierig schnurrenden, funkelnden Kamerakopf stößt von der Atelierdecke auf das Brautpaar zu – ein Stück Lilofee-Ballade inmitten der Magie der Technik.
Halt! Oberberg hängt mit dem Kopf in der Girlande. Und wieder halt! Drei Zentimeter über den Kreidestrich gefahren. Zehnmal, zwanzigmal und mehr geht der große Schwenk durch die Scheunenwelt der ländlichen Festfreude, alle Farben des Drehbuches mischen sich noch einmal auf der großen Palette.
4 Uhr morgens – ein letztes Mal rafft sich die todmüde, hungrige „Bauernhochzeit“ zum Schlußtaumel auf, spielen die Attrappen der Festtafel Überfluß unter den Scheinwerfern. Dann bricht Jugert den Bann: „Sitzt hundertprozentig!“ Acht Stunden Nachtaufnahme – drei Minuten Glück auf der Leinwand – Wechselkurs des Films!
[…]
Impressionen eines werdenden Werkes – wieder vollzieht sich das alte Wunder des Films, aus tausend Einzelheiten wächst das Ganze. Eines aber scheint hier besonderes Merkmal: Spiel und Widerspiel der Partitur löst sich erst im Werden zu feinster Nuancierung des optischen Ausdrucks, der der Zeitkomödie den Hintergrund von Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung gibt.
Herbert Schläger: „Film ohne Titel“. Scherz, Satire, Ironie… Die Camera-Film dreht in Geiselgasteig. In: Der Neue Film, Oktober 1947.
Käutners „Film ohne Titel“:
Über Helmut Käutners „Film ohne Titel“, der nach der Berliner Uraufführung jetzt in der britischen Zone zu sehen ist, muß man einiges sagen, weil er die beste Frucht vom Strauch der deutschen Nachkriegsproduktion ist. Daß er den Vergleich auch mit den Spitzenfilmen des Auslandes aushalten kann, deren wir jetzt eine lange Reihe offiziell oder intern sehen konnten, ist weniger ein Anlaß zu nationalem Kulturstolz als zu der bedenklichen Erwägung, wie doch die Filmkunst sich keineswegs in gleichem Tempo mit der Filmtechnik aufwärts entwickelt.
Käutner will zeitnahe Komödie spielen. Sein Thema: ein überfeinerter Kunsthändler verführt ein hübsches bäuerliches Dienstmädchen nach einer Berliner Bombennacht. Nach dem Zusammenbruch findet er Zuflucht auf ihrem väterlichen Bauernhof. Was geschieht? Was kann geschehen?
Der Film experimentiert mit verschiedenen Schlüssen. In einer Rahmenhandlung beraten drei Filmfachleute darüber. Der eine sieht nur tragische Schlüsse für echt an, der andere meint, das Publikum wolle den Operettenkitsch als Schlußakkord. Der Zuschauer sieht neben den beiden Experimentierschlüssen den echten, wirklichen. Nacheinander also erlebt man erstens, wie das geliebte Bauernmädchen, vom Hundeblick des triefnaß im Regen stehenden unrasierten Kunsthändlers verfolgt, zu einem fetten Auchbauern in die Hochzeitskutsche steigt, anschließend Suff zu Tode in den Ruinen – alles expressionistisch schräg photographiert, um das aus den Fugen geratene Weltbild der Liebenden anzudeuten. Zweitens: Kunsthändler wird Bauer, meistert strahlend alle Tücken ländlicher Objekte, zwingt den Bullen wie den Hengst, schwingt muskulös die Peitsche und heiratet aIs gutverdienender Halbgott das Mädchen, während volkstümliches Bauernballett neckisch tanzt. Die dritte Möglichkeit ist die echte: die drei Filmleute fragen das junge Paar, dessen Schicksal in Rede steht, wie sie nun doch zueinander gekommen seien. […]
Der Effekt ist unbestreitbar: des Publikum wird unmerklich zu besserem Geschmack erzogen. – Käutner ist einer der wenigen Leute, die so geistreich sind, daß sie sich’s leisten können, mit den Schwächen des Publikums kabarettistisch zu spielen. Er ist ein raffinierter Kenner des Durchschnittsgeschmacks; er weiß z. B., daß sein Hauptheld einige liebenswürdige Schwächen hat, seine Hauptheldin gelegentlich charaktervoll häßlich aussehen muß. Er sorgt dafür, daß Gags heim Überspringen vom einen zum andern Handlungsgleis aufblitzen, und sagt’s dem Publikum eigens an: denn wer guckte nicht gern hinter die Kulissen? Kurzum: Käutners Filme werden allmählich eine eigene Gattung. Elemente des Surrealismus sind in ihnen enthalten.
Das experimentierende Gegeneinanderausspielen von Wirklichkeit und Phantasie Ist z. B. eines der surrealistischen Grundelemente. Schon der titellose Titel entspricht der Neigung unserer Zeit, nichts als endgültig gelten zu lassen, alles im Unverbindlichen schwebend zu erhalten. Dahin gehört auch, daß man Schicksalsmöglichkeiten gleichsam zur Auswahl präsentiert und, natürlich, die alltäglichste, glimpflichste als echt erklärt.
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Gerhard Sanden: Käutners „Film ohne Titel“. In: Die Welt, 28.02.1948.
Edith Hamann: Kritik zu FILM OHNE TITEL. in: Der neue Film, Nr. 3/1948