Was ist Freizeit?

 

Drei Ansichten

Was Freizeit ist und ausmacht, darüber gibt es viele Ansichten. Drei Zugänge sollen im Folgenden kurz angerissen werden.

a.) Häufig wird ,,Freizeit“ vor allem unter dem Aspekt einer Zeiteinheit betrachtet, die sich von der Arbeitszeit abhebt“ mehr noch, als eine Art „Rest-Zeit“ die übrig bleibt, wenn nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch die Schlafens- und Essenszeit sowie – was häufig vergessen wird – die Zeit für Hausarbeit und Kinderbetreuung abgezogen wird. Wie die Freizeit gestaltet wird, ist nicht beliebig, sondern hängt vor allem von der Entwicklung im Produktionsprozess ab. Denn nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freizeit wird von dorther bestimmt. Zwischen moderner Arbeit und moderner Freizeit besteht ein innerer Zusammenhang, für den die schon genannten Stichworte „Rationalisierung“, „Arbeitsintensivierung“ und „Monotonie“ sowie ,,Entfremdung“ für den Arbeitssektor und die Stichworte „Zerstreuung“, “Hektik“, ,“Fluchtwelt“, ,,körperliche Verausgabung“ und ,,Vergnügungssucht“ für den Freizeitbereich maßgeblich sind. Die in den modernen Arbeitsprozess eingespannten Menschen sind mentalitätsmäßig von diesem so tiefgehend geprägt, dass oftmals auch die Freizeit ähnliche Grundstrukturen wie die Arbeitszeit aufweise. Aus einer solchen Perspektive gerät Freizeit auch schnell in einen Gegensatz zur Muße. Denn, wer Muße hat, etwas zu tun, wird von keiner Seite dazu gedrängt und muss auch keine negativen Arbeitserfahrungen kompensieren. Er oder sie machen Dinge aus sich heraus und bestimmen Anfang und Ende sowie Inhalt und Rhythmus der Tätigkeit.

b.) Historikerlnnen thematisieren ,,Freizeit“ darüber hinaus unter evolutionsgeschichtlichen Aspekten und betonen hierbei die Unterschiede, die zwischen der Freizeit der Industriegesellschaft und dem Feierabend der vorindustriellen Gesellschaft bestanden haben. Der Feierabend war zum Ausruhen und zum ,,Feiern ‚ bestimmt – nach jeweils vollbrachtem Tagwerk. Das Tagwerk erstreckte sich über viele Stunden des Tages, wobei die eigentlichen Arbeitstätigkeiten mit anderen Tätigkeiten fließend ineinander übergingen, zumal häufig Arbeits-und Wohnstätte räumlich noch unter einem Dache lagen. Sonn- und Feiertage und für Handwerksburschen die ,,blaue Montage“ unterbrachen ebenfalls das Arbeitsleben. Anders die Freizeit, die erst allmählich mit der Industriegesellschaft entstand. Sie setzte eine räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte sowie eine festumrissene Arbeitszeit und ein gegenüber vorindustriellen Zeiten verändertes Zeitbewusstsein voraus. Nicht mehr die natürlichen Zeitzyklen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Flut und Ebbe, regulierten den Ablauf menschlicher Arbeit, sondern die Zeit und damit auch die Arbeitszeit verselbständigte sich zu einer Verfügungsmasse, die nunmehr eingeteilt, verrechnet und gespart werden konnte. Dabei veränderten sich auch die Mentalitäten der Menschen, angefangen vom Zeitbewusstsein bis hin zum protestantisch-calvinistischen Arbeitsethos, bei dem Müßiggang als Anfang allen Lasters gedeutet wurde. Zeitliche Teileinheiten unterlagen nunmehr speziellen Bestimmungen. Die Teileinheit „Arbeitszeit“ sollte nach Auffassung der Unternehmer möglichst lange dauern und intensiv genutzt werden1), was auf den Widerstand der Arbeiterbewegung stieß. Damit begann der teilweise erbittert geführte gesellschaftliche Kampf um das Ausmaß der Arbeitszeit bzw. der Nicht-Arbeitszeit.

c.) Schließlich gibt es noch eine ganz andere Zugriffsart auf das Thema ,,Freizeit“. Freizeit interessiert hierbei weder im Zusammenhang mit Arbeitsprozessen noch in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, sondern wird für sich gesehen, und zwar überwiegend als ,,frei disponible Zeit“, die der Erbauung und Weiterbildung, aber auch dem Sport und Spiel, der Unterhaltung und dem Vergnügen dienen könne. Dabei wird Freizeit auch als eine Zeit begriffen, die der Selbstverwirklichung der Menschen diene, als „Zeit zur Freiheit, als Bereich des Spiels oder der Verwirklichung eines aus der Antike übernommenen Muße-Gedankens.“ 2)

 

Zeitgenössische Diskussion

Während in den Zwanziger Jahren die Erwerbstätigen vielfach dazu tendierten, den Freiheitsaspekt zu betonen (s.o.), ohne jedoch dabei den Zusammenhang mit der Arbeitswelt aus den Augen zu verlieren, thematisierten zeitgenössische Kulturkritiker, aber auch eine lnstitution wie die Berliner Ortskrankenkasse primär nur den Zusammenhang von Arbeit und Freizeit, wobei meist auch der Verkehr in die Betrachtung einbezogen wurde. Die Berliner Ortskrankenkasse sah die Veränderungen der Lebenswelten und Mentalitäten unter gesundheitlichen Aspekten. Dabei registrierte sie im Jahre 1926 nüchtern, dass neue Krankheiten in den Vordergrund rücken würden, wie Rheuma und Neurasthenie bzw. Nervenkrankheiten:

„Das nervenaufreibende Großstadtleben, die Hast in den Stadt- und Straßenbahnen, der große Verkehr und der Lärm in den Straßen, die nervenzermürbende Tätigkeit der Verkäuferinnen und vieler Stenotypistinnen, die Rationalisierung der Betriebe, die ein kurzes Rasten nicht gestatten, die nicht selten ungenügende Tauglichkeit für eine übernommene Arbeit, der Mangel an Ruhe in den Wohnungen, die fehlende Erholung an Sonn- und Feiertagen wegen des Massenandrangs bei der Fahrt ins Freie, unzweckmäßiges Verhalten an den freien Tagen und Abenden, alles das sind bekannte Dinge, die in ihren üblen Einwirkungen auf des Nervensystem… sich notwendig auch in den Krankenlisten der Krankenkassen bemerkbar machen.“ 3)

Das ,,unzweckmäßige Verhalten“ in der Freizeit wurde hier genauso als ungesund und krankmachend angesehen wie Arbeit und Verkehr. Vom Zusammenhang zwischen neuen Anforderungen im Arbeitsbereich und bestimmten Freizeitbetätigungen war die Rede. Und in der Tat, während der Weimarer Republik veränderten im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen viele Arbeitsplätze in Fabrik und Büro ihr Anforderungsprofil.4)

Gerade in der hannoverschen Industrie, soweit es sich um Fertigungs- und Feinindustrien handelte, wurde – wie in einer Festschrift über Hannover aus dem Jahre 1924 vermerkt wurde – ,,Teilarbeit in hoher Potenz oder Taylorismus, schlechthin genannt, zur Erzielung höchsten Nutzeffektes“ eingeführt. Zu den Folgen heißt es dort weiter:

„Dadurch wurde notwendigerweise die Arbeitsabwicklung für den einzelnen in den meisten Fällen entgeistet, wenn nicht gar quälend.“ 5)

Entspannung, neue Anspannung und Zerstreuung als Kompensation für nervenaufreibende und entgeistigte Arbeit – dieser Zusammenhang wurde schon in den 1920er Jahren immer wieder thematisiert. Aber die Art der Freizeitbetätigung war und ist nicht immer direkt aus den Arbeitsverhältnissen im strengen Sinne ableitbar. Individuelle Dispositionen sowie kulturelles Umfeld und soziales Milieu beeinflussten das Freizeitverhalten gleichfalls. Außerdem verfehlte die Werbung nicht ihre Wirkung. Neue Begierden und Bedürfnisse wurden darüber hinaus oftmals erst durch das Konsumieren geweckt, ein Selbstläufer setzte sich dann in Bewegung, stimuliert durch Technikbegeisterung, Idole und Sensationslust. Dies führte schließlich dazu, dass des Attribut „langweilig“ damals zu einem der ,,ärgsten Schimpfworte im modernen Leben“ wurde, wie der Freizeitpädagoge Fritz Klatt im Jahre 1929 feststellte:

“Der moderne Mensch will Spannung. Der Grund zu dieser ängstlichen Vertreibung der Langeweile aus unserem Privatleben ist in den gesteigerten Anforderungen des Arbeitslebens zu suchen. Die Arbeit zwingt jede Minute auszunutzen. Um gut leben zu können, sucht er aus seiner Zeit möglichst viel herauszuschlagen. Dass dies Grundsatz seines Arbeitslebens in die Bewirtschaftung seiner freien Zeit übergreift, ist die überall einsetzende Gefahr.“ 6)

Nach zeitgenössischem Verständnis setzte Freizeit also in der Regel ein Arbeitsverhältnis voraus. Doch gerade daran mangelte es ja in der so krisengeschüttelten Weimarer Republik. Über eine Million Arbeitslose waren die Regel (Ausnahme: 1925) – und rund 6 Millionen Arbeitslose zählte man am Höhepunkt der Wirtschaftskrise 1932. Pure Überlebensängste, ganz abgesehen von den psychischen Belastungen, ließen allein schon den Gedanken an Freizeit zum Hohn werden, selbst wenn Sonderpreise für Erwerbslose – beispielsweise bei manchen Filmvorführungen – immer noch „lockten“.

Adelheid von Saldern (1991)


  1. Vgl. zur Einführung Giesecke 1983, S.14f.
  2. Gerhard Huck: Freizeit als Forschungsproblem, in: Ders.(Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 1982, S.8f. Dort finden sich weiterführende Literaturhinweise. Mit den Definitionen von Freizeit beschäftigt sich u.a. auch Gert Eichler: Spiel und Arbeit. Zur Theorie der Freizeit, Stuttgart-Bad Cannstadt 1979.
  3. In: Zeitschrift für Gesundheitspflege und Soziale Hygiene 1928, S. 580f.
  4. Gleichwohl darf das Ausmaß der Rationalisierung nicht überschätzt werden. „Nur“ 40 v.H. aller im Büro tätigen Angestellten waren mit maschinellen Arbeiten beschäftigt. Susanne Suhr: Die weiblichen Angestellten, Berlin 1930, S. 22.
  5. In: Festschrift zur Tagung des Deutschen Städtetages in Hannover (= Sonderheft der Zeitschrift für Kommunalwirtschaft) Berlin-Friedenau 1924, S. 43.
  6. Fritz Klatt, Rationelle Freizeitgestaltung, eine Lebensnotwendigkeit der berufsgebundenen Jugend, in: Das Junge Deutschland 23 Jg., April 1929,H.4., S. 139 f.

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