Von den Absichten einer Göttinger Filmproduktion

Die Pioniere: Rolf Thiele und Hans Abich (Foto: Filminstitut Hannover)

Als der Gründerkreis der Filmaufbau GmbH im Jahre 1946 sich anschickte, eine Filmproduktionsstätte in Göttingen zu errichten, waren dem Überlegungen vorausgegangen, die nicht allein industrieller und lokaler Art waren. Vielmehr lag dem Versuch, in der britischen Besatzungszone eine deutsche Spielfilmproduktion ins Leben zu rufen, die geistige Fragestellung zu Grunde, welche kulturpolitischen Wirkungsmittel dem dringenden Thema der Zeit in der Situation nach 1945 und künftig in Deutschland
gerecht werden könnten und in welcher Weise und zu welchem Ziel derartige Wirksamkeiten anzusetzen seien.

Wir waren der Auffassung, daß die deutschen Notstände nicht allein von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problematik her zu erklären, sondern vor allem geistig-seelischer Art seien: Die Krisis, sollte sie – freilich nach langer und vielgestaltiger Bermühung – zu einem guten Ende führen, wurde allenthalben und unter den verschiedensten Aspekten nach dem totalen Zusammenbruch mit dem Postulat der Rehabilitierung der Menschlichkeit nominiert. In Anerkennung dieser hier nur formelhaft wiedergegebenen Grundaufgabe glaubten wir, ein Wirksamwerden aus jeglicher ideologischer Voreingenommenheit heraus von uns fernhalten und statt dessen dem vorgenannten Ziel mit der praktischen Arbeit auf einem kulturpolitischen Sektor dienen zu sollen. Es hätte dies nicht unbedingt der Film sein müssen; er schien sich jedoch als dasjenige Mittel anzubieten, das in seinem Wesen sowohl die breiteste Wirkturgtut, als auch am ehesten für mißbräuchliche Verwendung anfällig ist.

Unter diesem ganz allgemeinen Gesichtswinkel haben wir darauflrin inzwischen unter schwierigster und doch glücklicher Bewältigung aller realen Vorbedingungen in Göttingen eine Filmproduktionsstätte geschaffen, deren geistige Konzeption von unserem Kreise kurz folgendermaßen skizziert werden kann:

  1. Sich einer künstlerisch und kulturpolitisch verantwortlichen Filmproduktion zuzuwenden, heißt heute, den Versuch einer souveränen Anwendung zeitgemäßer Mittel zur Bändigung zeitgeborener Gefahren zu untemehmen.
  2. Nachdem in der Phraseologie der hinter uns liegenden Zeitperiode das Wort bis zur Entstellung abgenutzt worden ist, scheint gerade das Bildhafte geeignet zu sein, den Menschen in seinen bildsamsten Augenblicken anzusprechen.
  3. Wir erhoffen uns vom neuen Film eine Spielraumerweiterung in Richung auf eine wieder zu gewinnende Weltoffenheit ohne Preisgabe der Eigentümlichkeiten des deutschen Wesens. Wir glaubten insofern, bei der Vorbereitung unseres Produktionsvorhabens die in Göttingen angesetzte deutsche Initiative mit den Belangen der von den Besatzungsmächten angekündigten reeducation in Einklang zu sehen.
  4. Wir wollen in unseren Filmen keine Bevormundung des Publikums, sondern möchten jedem Menschen die Möglichkeit höchst persönlicher Erlösurg aus der Situation auch nach dem Kinobesuch als der üblichen Plattfonn der Mehrheitskonvention überlassen.
  5. Die polyphonen Gestalturgsmittel des Films sprechen gegen jedes künstlerische Dogma, gegen kulturpolitische Doktrinen und gegen den Primat einer Stoffgattung. Auf dem weiten Feld zwischen Problematik und Entspannung vermag unserer Auffassung nach der heutige Fihn imrner dann ethisch zu wirken, wenn er sich unaufdringlicher Töne bedient. Die heute übliche Huldigung an den sogenannten Gegenwartsfilm übersieht meist, daß man sich an und in unserer Zeit nicht beschränken, wohl aber um diese Zeit wissen muß, wenn man zu künstlerischer Aussage berufen sein will. (…)

Göttingen, den 27. April 1948


Dokument aus dem Nachlaß der Filmaufbau GmbH Göttingen

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