Objektivität in Dokumentarfilmen

7 Thesen zum Thema

Detlef Endeward (2022)

Bei der Beschäftigung mit Dokumentarfilmen ist es unausweichlich, sich mit dem „Mythos von der Authentizität dokumentarischen Materials, der ungebrochenen Verlängerung der uns umgebenden Wirklichkeit ins filmische Medium“ (Bueb) und dem Problemkreis von Subjektivität und Objektivität zu beschäftigen. Gerade der Dokumentarfilm weckt immer wieder – immer noch – die Hoffnung auf Objektivität, gerade der Dokumentarfilm wird häufig bewusstllos, intuitiv gebraucht

„Endlich kann man die Sache so sehen, wie sie wirklich ist: unverfälscht, neutral, wertfrei.“ (Wember)

Das Selbstverständnis des Begriffs Dokumentarfilm wird kaum hinterfragt. Dabei ist dieser Begriff schillernd und vieldeutig.


1.

„In der Regel gilt als Dokumentarfilm ein Film, der Ereignisse abbildet, die auch ohne Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten und /oder in dem reale Personen in ihrem Alltag auftreten – ein Film also, der sich an des Gefundene hält, nicht an das Erfundene.“ (Roth, mp 3/87)

Damit verknüpft ist zumeist eine „Vorstellung von »Wahrheit«, die eigentlich nur die abzubildende Wirklichkeit vor der Kamera meint, dem Abbildungsprozeß gleichzeitig mechanistisch eine quasi technisch begründete Objektivität zuspricht. (Dies) ließ denn auch historisch unterschiedliche Vertrauen und Erwartungshaltungen gegenüber den beiden Filmformen Spielfilm und Dokumentarfilm, erst aufkommen. So wird seit je dem Spielfilm jeder Freiraum bei der Interpretation der Wirklichkeit zugebilligt, wohingegen ein Hauptreiz im Dokumentarfilm in eben jener Erfahrung der Authentizität, der Unmittelbarkeit des Materials, besteht.“ (Bueb) Dokumentarfilm ist nach dieser Sichtweise der Wirklichkeit »näher« als ein Spielfilm, er hat einen höheren »Wahrheitsgehalt«.

Aber diese Kriterienbesetzung ist nichts als „stillschweigende Übereinkunft“, sie ist dem filmischen Material keineswegs inhärent. „Das Problem »filmischer Wahrheit« durchzieht vielmehr den gesamten Entstehungsprozeß eines jeden Films (…); es beginnt dort, wo jede filmische Manipulation überhaupt ihren Anfang nimmt: im Aufnahmeprozeß…“ (Bueb)


2.

Dabei ist das Prinzip der Selektivität ein für den Film (wie für jede Form menschlicher Wahrnehmung) konstituierendes Merkmal: „Aus einem Universum abbildbarer Gegenstände und Handlungen werden einige wenige Aspekte nach – notwendig subjektiven – Intentionen des Filmemachers ausgewählt und einemspezifischen Reproduktions- und Schnittverfahren unterworfen, das – bedingt durch abbildtechnische und inhaltliche »Verzerrungen« – seinerseits selektive Momente birgt. (…)

Die vorgeblich ungestellte Realität ist im Moment ihrer technischen Reproduzierung der Materialität des Mediums unterworfen. „ (Bueb) Durch die optische Reproduktion wird die »reale« Vorlage nach den Abbildungs-gesetzen des filmischen Materials strukturiert: Entfernung vom Gegenstand, Kamerawinkel, Schärfe, Lichtverhältnisse, Dauer der Einstellung, Aufnahmematerial usw. haben als technische Faktoren der Reproduktion interpretatorischen, die Stellung des Subjekts ausdrückenden Charakter.“ (Gersch)

Und im zweiten Stadium der Filmarbeit, der Montage, erfährt dieses Material eine weitere subjektiven Intentionen unterworfene Bearbeitung. Montage ist dabei die – ebenfalls bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfene – Organisation von Zeit und Raum durch Fragmentarisierung und Kombination von »Kamerablicken«, d. h. Bildern und von Tönen: Die Montage ist der wesentliche Gliederungsfaktor im filmischen Prozess, sie dient:

  1. der Überwindung von physischen und psychologischen Beschränkungen der Aufnahme,
  2. der Veranschaulichung von Zeitbezügen innerhalb einer Geschichte,
  3. als Ausdrucksmittel,
  4. der Einbeziehung des Zuschauers,
  5. der Artikulation des Erzähltraktes,
  6. der rhythmischen Ordnung,
  7. der Manipulation der Gefühle und des Urteils der Zuschauer.

Durch die Montage wird endgültige eine neue, eine »filmische« Wirklichkeit konstituiert, und erst diese rezipiert schließlich der Zuschauer.


3.

Also: In beiden Stadien der Filmarbeit, der filmischen Reproduktion am Ort des Geschehens, so »authentisch« oder »naturalistisch« diese auch sein mag, wie in der Nachbearbeitung, so »sachlich« oder »neutral« sie sich auch gibt, kann es Objektivität respektive eine irgend geartete Neutralität bei der Darstellung sog. »authentischer Wirklichkeit« nicht geben. Wir haben es immer nur mit »filmischer Wirklichkeit« und »filmischer Wahrheit« zu tun – und diese ist ein Konstrukt, von Menschen gemacht für Menschen.


4.

„Dies subjektive Moment spiegelt sich nicht immer und unmittelbar im fertigen Film, geschweige denn in seinem Rohmaterial, wider, zumal von vielen Dokumentarfilmmachern ein geradezu eifriges Bemühen zu erkennen ist, »objektive« Glätte herzustellen, alles was als »subjektiv« ausgelegt werden könnte zugunsten größerer »Sachlichkeit« in Filmen zu eliminieren respektive zu kaschieren. Genau diese Strategie des Ausgleichs (…) trägt jedoch zur Irreführung der Rezipienten bei, die, von vornherein geneigt, Dokumentiertes an Stelle von »documentum« (= Beleg) im Sinne von »dokumentarisch« = (»Wirklichkeitspartikel«) zu begreifen, es mithin dem Bereich des unantastbaren »Objektiven« zuzuschlagen.“ (Bueb)

„Dokumentarische Bilder erscheinen dem Zuschauer als die unmittelbaren Signale der Wirklichkeit. Es gehört die Kenntnis der ganzen filmischen Technologie dazu, um zu wissen, daß in jedem Dokumentarfilm auch sein Autor vorhanden ist, möglicherweise versteckt wie in einem Vexierbild, aber eben doch präsent.“


5.

Bei diesen Filmemachern, den Dokumentarfilmern, lassen sich drei Positionen zum Verhältnis dokumentarischer Wirklichkeitsabbildung und filmischer Wahrheit unterscheiden:

  1. Die Kamera geriert sich als Kopie des menschlichen Auges und müht sich, einen sozialen oder politischen Vorgang so abzubilden, wie er sich tatsächlich darstellt, ohne jeden Eingriff des Filmemachers. (Leacock u. a.)
  2. Die Kamera lehnt die Kopierhaltung ab, verhält sich gemäß ihren Absichten, bezieht Position, benutzt Winkel, Brennweiten, Zeitverzerrungen etc. zur optimalen und bewussteren Sichtbarmachung der äußeren Welt, ohne diese jedoch in irgendeiner Form zu verändern (Vertov u. a.)
  3. Die Kamera manipuliert sowohl den Aufnahmeprozess (gemäß 2.) als auch die abzubildenden Vorgänge, indem sie Szenen nachstellt etc. (Ivens u. a.)

Gerade Joris Ivens besinnt sich dabei auf den „ethymologischen Kern“ eines Wortes, dem in unausgesprochener Übereinkunft eher Attribute wie »objektiv«, »authentisch«, »der Wirklichkeit entsprechend« anzuhängen scheinen, als »beweisend«, »in subjektiver Überzeugung«. (Bueb)

„Verlangen wir Objektivität von Beweismaterial, das bei einem Prozeß vorgelegt wird? Nein, die einzige Forderung besteht darin, daß jedes Beweisstück eine so subjektive, wahrhaftige und ehrliche Präsentation der Zeugen sein muß, wie ein Eid auf die Bibel von ihm hervorbringen kann.“


6.

Zu fordern ist also von verantwortungsbewussten Filmemachern, dass sie sich ihrer Subjektivität bewusst sind und daraus die Erkenntnis ziehen, dass die filmische Darstellung »authentischer Wirklichkeit« immer zugleich Interpretation dieser Wirklichkeit ist und dokumentarisches Filmen die Kenntlichmachung und Offenlegung der jeweils angewendeten dokumentarischen Praktiken fordert.

Maßgebliches Kriterium für filmische Interpretation von Wirklichkeit kann nicht »Neutralität«, »Objektivität«, »Sachlichkeit« sein, sondern filmische »Ehrlichkeit« und »Wahrhaftigkeit«, die auf ernsthafter Recherche wie Überzeugung des Filmemachers beruht. Dies ist dann jedoch im Kern eine ethisch-moralische Forderung.


7.

Zu fordern ist gleichzeitig von kompetenten Historikern, dass sie sich ihrer Subjektivität bewusst sind und daraus die Erkenntnis ziehen, dass die Rekonstruktion von Vergangenem immer zugleich auch eine Konstruktion und Interpretation dieser vergangenen Wirklichkeit ist und historische Aufarbeitung die Bewusstmachung und Offenlegung der Fragestellung und der jeweils methodischen Praktiken fordert.

Maßgebliches Kriterium für die Nutzung von Filmen im Prozess dieser Aufarbeitung kann nicht die Erwartung »objektiver Wirklichkeitspartikel« sein, sondern die Durchschaubarmachung der filmischen Wirklichkeit. Dies ist dann aber eine Frage der Medienkompetenz.

Detlef Endeward (2022)


Literatur:

Behring, Heiner [1989]:  Fiktion und Wirklichkeit: Die Realität des Films, in: Geschichtswerkstatt 17, Hamburg 1989, S. 8

Bueb, Klaus [1980]: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Zur Theorie und Geschichte des Dokumentarfilms, in: Brauneck, Manfred (Hrsg.): Film und Fernsehen. Materialien zur Theorie, Soziologie und Analyse der audio-visuellen Medien. Bamberg 1980, S. 286-312

Endeward, Detlef; Stettner, Peter [1988]: Film als historische Quelle. Anmerkungen zu Joachim Wendorf/Michael Lina: Probleme einer themengebundenen kritischen Filmquellen-Edition, in: GWU 1988/8, S. 496-498

Kluge, Alexander [1975]: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/M. 1975, in: Kluge, Alexander: Bestandsaufnahme: Utopie Film. Frankfurt/M. 1983, S. 201-209

Marwick, Arthur [1986]: Der Film ist Realität, in: Schmid, Georg (Hrsg.): Die Zeichen der Historie. Beiträge zu einer semiologischen Geschichtswissenschaft. Wien/Köln/Graz 1986, S. 297-310

Roth, Wilhelm [1997]: Dokumentarfilm, in: medien praktisch 3/1997, S. 15

Wember, Bernward [1972]: Objektiver Dokumentarfilm? Modelle einer Analyse und Materialien für den Unterricht. Berlin 1972

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