Morituri (1948)

Inhalt

Fünf KZ-Häftlinge verschiedener Nationalität flüchten mit Hilfe eines polnischen Arztes aus dem Lager. Im Wald treffen sie mehrere Familien, die sich dort vor den Deutschen verbor­gen halten und die russischen Fronttruppen erwarten. Die Schicksale der für Wochen der Not in dem polnischen Wald­versteck zusammentreffenden Menschen werden in der Folge dargestellt. Als ihnen ein deutscher Soldat, selbst nur Voll­strecker einer höheren Befehlswillkür, in die Hände fällt, ringen sie sich zu der Erkenntnis durch, daß Unrecht nur durch Gnade aus der Welt geschafft werden könne. Der Soldat weist ihnen in der Stunde der Entscheidung als Gegengabe den Weg zur Freiheit.

Autoren/Innen

Filmanalyse: Autorengruppe Nachkriegsspielfilme (1993)
Zusammenstellung und Bearbeitung der Materialien: Autorengruppe Nachkriegsspielfilme (1993); aktualisiert: Detlef Endeward (2020)


Standbild aus dem Film
Originaltitel Morituri
Produktionsland Deutschland
Originalsprache Deutsch
Erscheinungsjahr 1948
Altersfreigabe FSK 16
Stab
Regie Eugen York
Drehbuch Gustav Kampendonk
nach einer Idee von Artur Brauner
Produktion Artur Brauner für CCC
Musik Wolfgang Zeller
Kamera Werner Krien
Schnitt Walter Wischniewsky
Uraufführung Uraufführung (IT): 28.08.1948, Venedig, Filmfestspiele;
Erstaufführung (DE): 24.09.1948, Hamburg, Waterloo;
DarstellerInnen
  • Walter Richter: Dr. Leon Bronek
  • Winnie Markus: Maria Bronek
  • Lotte Koch: Lydia, die Polin
  • Hilde Körber: die Irre
  • Catja Görna: Stascha Sokol
  • Josef Sieber: Eddy, der Staatenlose
  • Carl-Heinz Schroth: Armand
  • Siegmar Schneider: Gerhard Tenborg
  • Peter Marx: Pjotr, der Russe
  • Alfred Cogho: Roy, der Kanadier
  • Josef Almas: Anwalt Dr. Simon
  • Ellinor Saul: Lucie, seine Tochter
  • Ursula Bergmann: Ruth, seine Tochter
  • Willy Prager: Vater Simon
  • Annemarie Hase: Mutter Simon
  • Karl Vibach: Georg, deutscher Soldat
  • Bob Kleinmann: Janek, 12 Jahre
  • Michael Günther: Wladek, 16 Jahre
  • Erich Dunskus: Sokol, polnischer Bauer
  • David Minster: Invalide
  • Franja Kamienietzka: Frau Steppan
  • Klaus Kinski: Holländischer Häftling
  • Gabriele Hessmann: Die Schwangere

Mit MORITURI wollte ich das auf die Leinwand bringen, was ich selbst erlebt hatte. Mit diesem Film wollte ich an das Gewissen der Welt appellieren. Aber man ließ mich nicht. Die Alliierten, von denen ich bisher angenommen hatte, daß ihr Krieg auch ein Krieg war für die Unterdrückten, für die Ewig-Geschundenen, für die ‚kleinen Leute‘ aller Nationen und Rassen, die immer alles ausbadenmußten, was ihnen die Großen eingebrockt hatten, die Alliierten schienen andere Sorgen zu haben. Sie waren so stark mit ihren Berliner vier Sektoren beschäftigt, mit all den Querelen, Zuständigkeiten, Oberhoheiten, Einflußbereichen, daß ihnen mein Film völ­lig wurscht war.

Ich drehte ihn trotzdem. Weil ich spürte, daß ich ihn einfach drehen mußte. Es gibt im Leben Situationen, in denen man weiß: das mußt du tun, obwohl es absolut wider jede Ver­nunft ist, aber wenn du es nicht tust, wirst du es dein Leben lang bereuen. Unvernünftig, absolut idiotisch war mein Plan schon deshalb, weil ich dunkel ahnte, daß ich mit diesem Film kaum Geld verdienen würde.“

Artur Brauner: Mich gibt’s nur einmal, München 1976

Der Film Morituri, der unter der Regie von Eugen York und mit Artur Brauner als Produzent in den Jahren 1947 bis 1948 entstand, stellte einen der wenigen Versuche dieser Zeit dar, neben dem Krieg und seinen Verwüstungen auch den Aspekt der Verfolgung zu thematisieren. Ein weiterer Unterschied zu vielen anderen und populäreren Filmen der Nachkriegszeit ist, daß Morituri ausschließlich in der Vergangenheit spielt und nicht wie beispielsweise Wolfgang Staudtes Die Mörder sind unter uns neben den Darstellern auch der Trümmerlandschaft deutscher Städte eine wichtigere Funktion als bloßer Kulisse zuschrieb. Auch war Morituri weniger ein Film des Regisseurs Eugen York, sondern vielmehr der Film des damals knapp dreißigjährigen Produzenten Artur Brauner. Der Film entstand nach Brauners Idee und entsprang teilweise seinen eigenen Erfahrungen als Verfolgter des NS-Regimes. Die Realisierung dieses Projekts war für ihn eine „Herzensangelegenheit“6 , denn er wollte „… ein Denkmal setzen der gehetzten Kreatur, den immer Unterdrückten, gleichviel welcher Nationalität, denen, die immer bezahlen müssen, wenn irgendwo ein Krieg beginnt, die immer auf der Flucht sind, immer Angst haben müssen, denen nie oder doch fast nie Recht wird“7 . Brauner nahm aufgrund der persönlichen Beziehung zu gerade diesem Film viele Schwierigkeiten in Kauf, um das Projekt vor dem Scheitern zu bewahren. Seine Filmfirma, die Central Cinema Company (CCC) hatte eine französische Lizenz, lag aber im amerikanischen Sektor des viergeteilten Berlins. Aus dieser Tatsache erwuchsen Schwierigkeiten mit dem verantwortlichen US-amerikanischen Filmoffizier, der ihn aufforderte mit seinem Büro und den Produktionsstätten in den französischen Sektor umzuziehen.8 Da Brauner dies aus finanziellen Gründen unmöglich war, wurden ihm auf Anweisung der amerikanischen Militärbehörde die Telefonanschlüsse gesperrt. Er zog pro forma in den britischen Sektor um, erhielt jedoch noch immer von keiner der westlichen Militäradministrationen die Dreherlaubnis. Im Juni 1947 wandte sich Brauner an die sowjetische Militärregierung, die ihm schließlich erlaubte, noch immer ohne offizielle Lizenz, mit den Dreharbeiten zu einen Film mit dem Arbeitstitel „Die Namenlosen“ zu beginnen.9 Im Spätsommer 1947 konnte das Team endlich beginnen, Brauners „Herzensangelegenheit“ in die Tat umzusetzen. Die technischen Rahmenbedingungen gestalteten sich auch in Anbetracht der prekären Wirtschafts- und Versorgungslage im Nachkriegsdeutschland äußerst schwierig. Die Außenaufnahmen drehten York und Brauner in einem Waldstück in der sowjetisch besetzten Zone bei Temperaturen unter Null. Außerdem waren die Stromversorgung und die Verpflegung der Mitarbeiter selten gesichert.10 Um Kosten und neue bürokratische Schwierigkeiten mit den alliierten Kontrollbehörden zu vermeiden, verzichtete Brauner soweit wie möglich auf Atelieraufnahmen, die Lizenzinhabern vorbehalten waren. Trotzdem bereitete ihm die Kostenentwicklung Sorge, und er appellierte an das Filmteam, kein Material für den Schwarzmarkthandel zu entwenden.11 Um die ersten Szenen des Films, die in einem Konzentrationslager spielen, authentisch darstellen zu können, bat er die Provinzialverwaltung Sachsen um die Überlassung von Fotomaterial aus Konzentrationslagern, „ …d.h. insbesondere von Toren, Zäunen, Wachtürmen, Signalanlagen, Schlafräumen, Dienstzimmern, Sicherheitsanlagen, Arztzimmern und ähnlichen Räumen“12 .

Obwohl Brauner bemüht war, den Nationalsozialismus als Urheber von Krieg und Verfolgung in Morituri anzuklagen, bestand er nicht darauf, daß die Mitglieder seines Filmteams die zwölf Jahre der Diktatur gänzlich unbelastet durchlebt hatten. Der Filmkomponist Wolfgang Zeller etwa hatte unter anderem für die Musik in Veit Harlans Jud Süß verantwortlich gezeichnet.13 Die meisten anderen Beteiligten, wie die Darsteller Winnie Markus, Karl-Heinz Schroth und Walter Richter, standen vorher ebenfalls in Diensten der UFA oder waren sogar, wie Hilde Körber, eng mit den NS-Regisseuren Harlan und Liebeneiner verbunden.14 Brauner legte bei der Umsetzung seiner Idee mehr Wert auf technisches Können als auf politische Unbelastetheit.

Probleme ergaben sich beim Verfassen des Drehbuchs. Der Autor Gustav Kampendonk war der zweite, der Brauners Idee umsetzen sollte. Die erste Fassung war verworfen worden, und auch Kampendonks Überarbeitung stellte Brauner nicht zufrieden. Er hielt sie für „zu pathetisch, zu hölzern, zu wenig lebendig“15. Der zeitliche und finanzielle Druck erlaubte es jedoch nicht, eine gänzlich neue Fassung des Drehbuchs auszuarbeiten, und so wurden die Änderungen während der laufenden Dreharbeiten eher improvisiert als durchdacht vorgenommen.16

Im Frühjahr 1948 endeten die Dreharbeiten zu Morituri. Im Rahmen der IX. Biennale in Venedig wurde der Film am 28. August 1948 uraufgeführt. In Deutschland wurde der Film von der Filmverleihfirma des Müncheners Kurt Schorcht, der späteren Bavaria Filmverleih GmbH, vertrieben. Die alliierte Militärzensur gab den Film offiziell im September 1948 zur Aufführung frei.17 Ort der deutschen Uraufführung am 24.9.1948 war allerdings nicht Berlin, sondern das Waterloo-Filmtheater in Hamburg.18 Ein möglicher Grund dafür könnte die Blockade Berlins durch die Sowjets, die vom 24.6.1948 bis zum 12.5.1949 andauerte, gewesen sein. Der Journalist Peter Edel von der wiedergegründeten und sowjetisch lizensierten Zeitschrift „Die Weltbühne“ machte jedoch viel mehr die Westalliierten für diesen Ortswechsel verantwortlich, indem er schrieb: „Sollte in gewissen Kreisen die Kriegsverhetzung der Atomjünger schon so weit gediehen sein, daß ein Film, der Russen, Staatenlose, Deutsche, Juden, Polen, Amerikaner und Franzosen zusammen einträchtig auf der Leinwand zeigt, als unerwünscht bezeichnet wird?“19 Schon diese publizierte Aussage vom Dezember 1948 verdeutlicht, daß die ideologische Spaltung Deutschlands zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten war und die Rezeption jedes politisch ambitionierten Films beeinflußte oder wie bei Morituri sogar erschwerte.


6 Brauner, Artur, zit. nach Riess, Kurt: Das gab’s nur einmal. Der Deutsche Film nach 1945, Bd. 4, Wien, München 1977, S. 199.
7 Ebenda.
8 Vgl. Thiele, Martina: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film: Morituri, Nacht und Nebel, Mein Kampf, Nackt unter Wölfen, Ein Tag, Holocaust, Der Prozeß, Shoah, Schindler’s Liste. Göttingen 2000, elektron. Publikation der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, S. 140, http://www.sub.uni-goettingen.de.
9 Ebenda.
10 Ebenda, S.141 f.
11 Vgl. Dillmann-Kühn, Claudia: Artur Brauner und die CCC. Filmgeschäft, Produktionsalltag, Studiogeschichte 1946 – 1990, Frankfurt a. M., 1990, S. 31.
12 Brauner, Artur, zit. n. ebenda, S. 32 f.
13 Vgl. Thiele, Martina, a. a. O., S. 150.
14 Ebenda.
15 Brauner, Artur, zit. n. Dillmann-Kühn, Claudia, a. a. O., S. 30.
16 Vgl. Thiele, Martina, a. a. O., S. 150.
17 Ebenda, S. 141.
18 Vgl. Pleyer, Peter, a. a. O., S 315.


aus: Aschenbach, Michael: Holocaust und Film. Die Rezeption populärer Spielfilme über die Shoah in der Bundesrepublik Deutschland und ihr Einfluss auf die Erinnerungskultur. Magisterarbeit am Historischen Seminar der Universität Hannover 2004, S. 7-10.

Proteststürme

„Es war eine Probe für mich. Eine Probe für mein ganzes Leben, zu sehen, wie standhaft ich bin, wenn es Schwierigkeiten gibt.“ (A. Brauner)
Resonanz

Daß Morituri zum ersten Mal während der Internationalen Filmfestspiele  in Venedig aufgeführt wird, erfüllt Brauner mit Stolz. Er hat seiner  Meinung nach einen internationalen Film gemacht und hofft nun auf  internationales Interesse. Der Film wird indes von der ausländischen  Presse zurückhaltend aufgenommen. Die Berichterstattung in Deutschland ist zunächst wohlwollend. Wegen der Premierenverlegung von  Berlin nach Hamburg findet der Film gewisse Beachtung. Und durch die  Werbung des Schorcht-Verleihs und die Teilnahme an der Biennale wird  die Filmpremiere in Hamburg gar zum gesellschaftlichen Ereignis. Der Spiegel berichtet am 2.10.1948 ausführlich über den „mit geheimnisvoller Reklame wirkungsvoll angekündigten“ Film und weist darauf hin,  daß Morituri „schon in Venedig internationale Beachtung gefunden“  hat.268 Doch sind die Reaktionen des Hamburger Publikums am Ende der Vorstellung eindeutig ablehnend. Erika Müller schreibt in der Zeit
vom 30.9.1948: „Es ist ein Film, der als Mittel zur readucation [sic!] dient, und das ist leider kein gutes Wort. Aber niemand darf es sich leicht machen und Verantwortung ablehnen. Und deshalb sollt es besser diese Stimmen nicht geben, wie sie nach der Vorstellung am Ausgang zu hören waren. ‚Den sollten sie in Nazi-Lagern zeigen‘, ‚ganz schön, aber immer diese Tendenz‘, ‚ich gehöre nicht dazu …‘. Dieser Film ist eine ernste Warnung, die jeden angeht.”269
Das Thema ist vielen Zuschauern zu bedrückend, sie möchten die Vergangenheit hinter sich lassen, vor allem aber sich nicht angeklagt fühlen, ganz unabhängig davon, ob ein Film Anklage erhebt oder wie im Fall von Morituri doch Versöhnung und Vergebung propagiert. Brauner erinnert sich 1995: „Als der Film damals zur Aufführung kam, sind die Fensterscheiben zerschlagen und Stinkgase angedroht worden. Manche Kinos haben dann sofort den Film absetzen müssen. Heute würde es liberaler zugehen, wobei das Publikum trotzdem nicht in Scharen ins Kino rennt.“270

In anderen Städten wie z.B. Hannover sind die Proteste noch lauter. Schon während der Vorstellung pfeifen und rufen die Zuschauer oder verlassen empört den Kinosaal und verlangen ihr Geld zurück. Nach wenigen Vorführungen setzen die meisten Kinobetreiber den Film ab. Im Hamburger Waterloo-Filmtheater, wo Morituri gestartet ist, läuft er nur
zwei Wochen. In 363 Theatern sehen 424.476 Zuschauer den Film, während ein durchschnittlich erfolgreicher Film damals in mindestens der Hälfte der 6.000 Filmtheater aufgeführt wird und vier bis fünf Millionen Besucher anzieht.271 Kurt Schorcht, der Verleiher, schlägt Brauner nach den öffentlichen Protesten vor, den Film nur noch in Sonderveranstaltungen und in Verbindung mit geeigneten Organisationen wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) aufzuführen. Morituri ist also ein wirtschaftlicher Mißerfolg. Artur Brauner stellt in seinen Erinnerungen Mich gibt´s nur einmal fest:

„Gekostet hat Morituri anderthalb Millionen Reichsmark und, da uns die Währungsreform überrollt hatte, noch einmal 250.000 DM. Eingespielt hat er knapp 60.000 DM. An meinen Schulden zahlte ich fünf lange, bittere Jahre. Ich habe es trotzdem nie bereut, diesen Film gemacht zu haben. Gelernt allerdings habe ich – leider, leider -, daß ein Kino in erster Linie eine Stätte der Unterhaltung sein sollte und keine Stätte der Vergangenheitsbewältigung.”271

268 Menschen hart am Abgrund. Der Weg in die Freiheit. In: Der Spiegel, Nr. 40 vom
2.10.1948, S. 22.
269 Müller, Erika: Morituri. Filmerstaufführung in Hamburg. In: Die Zeit vom 30.9.1948.
Quelle: Deutsche Institut für Filmkunde.
270 Brief Artur Brauners an die Verfasserin vom 12.12.1995. 152 II. 1. Morituri (Deutschland 1948)
271 Die Angaben stammen von der Geschäftsführerin der Schorcht International Filmproduktion und Filmvertriebsgesellschaft, München. Vgl. Dillmann-Kühn, Claudia:
Artur Brauner und die CCC. A.a.O., Anm. 59, S. 47.
272 Brauner, „Atze“: Mich gibt´s nur einmal. Rückblende eines Lebens. München, 1976, S.
76.


aus: Martina Thiele: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film. Dissertation an der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 2001, S. 151/152

 

Brauner und York stellen in Morituri die Opfer von Krieg und Verfolgung in den Mittelpunkt der Filmhandlung und versuchen gleichzeitig, durch die Einbeziehung verschiedener Opfergruppen und Nationalitäten auf einen gewissen Ausgleich zwischen verfeindeten Völkern hinzuwirken.21 Besonders in seinen Anfangssequenzen vermag der Film zu fesseln. Die Szenen im Lager, das Brauner mit Baracken, Wachtürmen und Stacheldrahtzaun nachbauen ließ, wirken beklemmend, die Flucht der Häftlinge durch schnelle Schnitte, wechselnde Perspektiven und eine bedrohliche Geräuschkulisse mit Motorenlärm, knackenden Zweigen und Hundegebell dramatisch und bedrohlich. Erst nach der Ankunft der Flüchtlinge im Waldversteck entwickelt sich der DialogCharakter des Films. Das Motiv des Einanderverstehens trotz unterschiedlicher Herkunft wird hier, noch hervorgehoben durch den bewußten Verzicht auf Untertitel, besonders deutlich. Die Einigkeit der Opfer ist ihre Waffe gegen Krieg und Verfolgung und gleichzeitig die hoffnungsvolle Perspektive auf eine bessere Zukunft. Trotz Brauners jüdischer Herkunft wird das Thema Antisemitismus lediglich einmal als Besonderheit der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik benannt. In einem Gespräch zwischen dem deutschen Pfarrer und dem jüdischen Rechtsanwalt bezichtigt sich der Pfarrer, durch seinen christlichen Antijudaismus selbst zur Diskriminierung und Verfolgung der Juden beigetragen zu haben.

Der Pfarrer: Sie sind gejagt und gehetzt worden, während ich noch auf der Kanzel stand und predigte: Herr, vergib ihnen! Und als ihre Kirchen brannten, da schloß ich meine Kirchentür von innen zu und fühlte mich als Werkzeug Gottes. Dabei war auch ich nur ein Werkzeug der Gewalt. – Der fürchterlichste Krieg stürmt über alle Länder und Meere, und wir sitzen hier und sind an den Rand geworfen wie Strandgut und können nichts tun.

Der Verteidiger: Doch!

Der Pfarrer: Glauben Sie?

Der Verteidiger: Ja, denn der Mensch will leben, und er will sich überall in der ganzen Welt mit all den Menschen zusammentun, die gleich ihm an das Kreuz des Krieges geschlagen sind.

Abgesehen von diesem Dialog wird die Verfolgung und Vernichtung der Juden nicht gesondert thematisiert. In Morituri sind alle gleichermaßen Opfer von Krieg und Verfolgung. Der Film beschreibt den Krieg aus der Sicht des „kleinen Mannes“, der sich den Zeitläuften machtlos ausgesetzt fühlt.22 Widerstand bringt in Morituri immer nur noch mehr Unheil hervor. Broneks Bedürfnis, den Tod seiner Frau zu rächen und gleichzeitig sein Heimatland von den Okkupanten zu befreien, steht dem Pragmatismus der Lehrerin Lydia entgegen, die nur das Überleben der ihr anvertrauten Menschen retten will. Die Waldbewohner mögen noch so verzweifelt sein, ihre Stimmung wird nie kämpferisch, ihr einziges Bestreben bleibt es, nicht entdeckt zu werden. Die Täter in Morituri bleiben anonym, ohne Gesicht. Man hört nur ihre Stimmen, geschriene Befehle, sieht ihre Uniformen und Stiefel. Auch wenn diese Darstellung des Bösen filmhistorisch nicht unüblich war, so entsteht doch der Eindruck, York und Brauner wollten so eine Konzession an das Publikum machen, das sich so nicht mit den Tätern identifizieren muß. Der einzige Täter, der uns näher gebracht wird, ist letzten Endes gar keiner, sondern derjenige, der den Flüchtlingen den Weg in die Freiheit zeigt. All das spricht für das Kernmotiv der Versöhnung, unter dem man die Filmhandlung betrachten muß. Die Schlüsselszene dafür ist der Femeprozeß gegen den jungen Wehrmachtssoldaten im Waldversteck. Der jüdische Verteidiger fordert die individuelle Überprüfung der Schuld, besteht trotz der schrecklichen Verbrechen der Deutschen auf dem Prinzip, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden. Diese Szene markiert eine klare Absage an die Kollektivschuldthese, die während der Entstehung des Films ein zentrales Thema in Deutschland war. Die letzte beeindruckende Szene des Films ist die Feier der Versteckten in Erwartung des sicheren Todes. Die HANNOVERSCHE ABENDPOST schrieb seinerzeit dazu: „Alle Gesichte und Gesichter verdichten sich zu einer gespenstischen, makabren Schau, die an Gemälde von Carl Hofer erinnert: Von erbeutetem Schnaps Trunkene tanzen, Marionetten gleich, in Lumpen und auf Krücken einen Totentanz des Lebens. Der suggestive Expressionismus der Schwarz-Weiß-Optik, der im Helldunkel der Nachtaufnahmen den gesamten Film bestimmt, erreicht in dieser visionären Optik des Grauens seinen Höhepunkt.“23 Das an diese düstere Szene anschließende Happy-End des Films wirkt aufgesetzt. Das Vertrauen, das der Staatenlose in seinen Gefangenen gesetzt hat, darf offenbar nicht enttäuscht werden. Die naheliegende Befreiung der Versteckten durch die Rote Armee bleibt aus, die Bedrohung durch die Deutschen löst sich geradezu in Luft auf. Die internationalen Reaktionen auf den Film nach der Uraufführung in Venedig waren eher verhalten, in den drei westlichen Besatzungszonen zunächst wohlwollend. Man lobte gemeinhin die Ambition des Films, versöhnend zu wirken. In den Zeitungen der SBZ wurde der Film, wenn überhaupt besprochen, einhellig verrissen. Es war vermutlich die allzu nachsichtige, deutschfreundliche Tendenz des Films, die dazu führte, daß Morituri, obwohl mit Unterstützung der sowjetischen Militärregierung produziert, in der SBZ nicht gezeigt werden durfte. Noch erheblich negativer als die Kritiken in der Presse fielen die Zuschauerreaktionen aus. In Hannover protestierten die Zuschauer während der Vorstellung lautstark, verließen den Saal und verlangten ihr Geld zurück.24 Die Thematik des Films schreckte das Publikum ab. Obwohl mit den Deutschen als Tätern im Film nachsichtig umgegangen wurde, verkörperten deutsche Soldaten doch das Böse. Eine Identifizierung mit den Opfern entfiel für weite Teile der Zuschauer schon aufgrund der Tatsache, daß es sich überwiegend um ehemalige Kriegsgegner handelte. Völkerverständigung auf der Grundlage eines religiös inspirierten Pazifismus entsprach in keinster Weise dem Zeitgeist der Frühphase des Kalten Krieges. Die heftigen Reaktionen des Publikums veranlassen den Verleiher Kurt Schorch dazu, Artur Brauner zu empfehlen, den Film nur noch im Rahmen von Sonderaufführungen und in Zusammenarbeit mit geeigneten Organisationen wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) zu zeigen.25 In einer Zeit, in der ein durchschnittlich erfolgreicher Film in Deutschland etwa vier Millionen Besucher ins Kino lockte, erreichte Morituri genau 424.476 Zuschauer in 363 von insgesamt etwa 6.000 Filmtheatern.26 Morituri war für Brauner und die CCC also ein wirtschaftlicher Mißerfolg. In seinen Memoiren schrieb Brauner dazu. „Gekostet hat ‚Morituri’ anderthalb Millionen Reichsmark und, da uns die Währungsreform überrollt hatte, noch einmal 250.000 DM. Eingespielt hat er knapp 60.000 DM. An meinen Schulden zahlte ich fünf lange, bittere Jahre. Ich habe es trotzdem nie bereut, diesen Film gemacht zu haben. Gelernt habe ich – leider, leider –, daß ein Kino in erster Linie eine Stätte der Unterhaltung sein sollte und keine Stätte der Vergangenheitsbewältigung.“27

Autorengruppe Nachkriegsspielfilme (1993)


21 Vgl. Thiele, Martina, a. a. O., S. 472.
22 Ebenda, S. 145.
23 Morituri. Film-Uraufführung in Hamburg. In: Abendpost (Hannover) vom 30.09.1948, S. 3.
24 Vgl. Dillmann-Kühn, Claudia, a. a. O., S. 47.
25 Vgl. Thiele, Martina, a. a. O., S. 152.
26 Ebenda.
27 Brauner, „Atze“: Mich gibt’s nur einmal, Rückblende eines Lebens. München, 1976, S. 76.

Standbild aus dem Film

(…) Als Handlungsort wird in dem CCC-Pressematerial „das Arbeitslager Gellnik in Polen“ genannt. In Polen hat es zwischen 1939 und 1945 eine Vielzahl von Lagern gegeben, ob es auch ein „Arbeitslager Gellnik“ gegeben hat, ist nicht zu belegen. Brauner läßt ein Lager mit Baracken, Wachtürmen und Stacheldrahtzaun nachbauen. Das Lagertor trägt wie in
Buchenwald die Aufschrift „Jedem das Seine“. Morituri gehört mit Lang 144 II. 1. Morituri (Deutschland 1948) ist der Weg zu den wenigen deutschen Nachkriegsproduktionen, in
denen überhaupt ein Lager als Ort der Handlung vorkommt. Das Lager ist aber weniger Ort der Handlung als deren Ausgangspunkt. Das mag zum einen daran liegen, daß der Anspruch, den Terror in einem Lager möglichst realistisch darzustellen, schon aufgrund technischer und organisatorischer Schwierigkeiten schwer zu erfüllen gewesen ist, zum anderen an der Geschichte, die Brauner erzählen will.(…) > mehr

aus: Martina Thiele: Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film. Dissertation an der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 2001S. 142-148

 

Zum Verhältnis von „Audio History“ und Bildraumanalyse

(…) Die Möglichkeiten, die sich mit der Kategorie des Bildraums für die Filmanalyse ergeben, will ich im Folgenden an dem deutschen Spielfilm MORITURI (1948) verdeutlichen, der als erster ein KZ und dessen Funktion zeigt. Das Analysebeispiel ist dabei nicht willkürlich gewählt, sondern verbindet die angedeutete Problematik des Audiovisuellen mit ihrer historischen Herleitung und dem gewählten methodischen Ansatz. Denn thematisch bewege ich mich mit meinem Beispiel in einem Bereich, der wiederum paradigmatisch für einen sehr spezifischen und zugleich über lange Zeit sehr dominanten Umgang mit dem Filmton insbesondere in Deutschland steht: Nationalsozialismus (NS) und Zweiter Weltkrieg gehören zum einen auch deshalb zu den medial am meisten aufbereiteten historischen Ereignissen, weil sie aufgrund des Fortschritts der tontechnischen Entwicklung in den späten 1930er Jahren und ihrer erst im NS ökonomisch gelungenen Integration (Hans 2004, Koepnick 2002), erstmals die Illusion einer auditiven Realitätsabbildung evozieren konnten. (…) > weiter

aus: Bernhard Groß: Komplexität des Sinnlichen. Zum Verhältnis von „Audio History“ und Bildraumanalyse. Auf: Nach dem Film 19.01.2015 [abgerufen 15.02.2022]

 

„Ganz unterschiedliche Sichtweisen und Erwartungen sind in den Rezensionen und Unmutsäußerungen der Zuschauer nach dem Filmstart zu erkennen“ fasst M. Thiele (a.a.O., S. 153) in ihrer Diss. ihre Untersuchung der zeitgenössischen Filmkritiken zusammen.

 

Eines sei hier am Anfang festgestellt, dieser Film gehört, wie Ehe im Schatten, mit zu den besten deutschen Filmen, die nach dem Kriege auf der Leinwand erschienen sind. Er behandelt ein Thema unserer Zeit. Er schildert das abenteu­erliche Erleben von fünf KZ-Insassen, deren Schicksal sich später mit dem einer Gruppe von Menschen verbindet, die vor der Gefahr der Deportation in einem Waldlager Zuflucht gesucht haben. Es gereicht diesem Film zur Ehre, daß er das behandelte Thema mit ebenso großem Takt wie Anstand löst. Er ist eine Anklage, eine Anklage aber, die nicht skrupellos, unbedenklich und haßerfüllt sich gegen alle wendet, sondern den Personenkreis der Betroffenen genau zu begrenzen weiß. Sie kennt keine Kollektivschuld. Die Gerichtsszene im Walde, die dann überblendet in einen wirklichen Gerichtssaal (diese Überblendung kommt als eigentlich einzige stilistische Abweichung von der sonst äußerst realen Basis etwas überra­schend), legt diese Auffassung eindeutig und unumstößlich fest. Der Film predigt nicht Haß und Vergeltung. Er zeigt die Schuld auf, aber er spricht nicht von Rache. Er überwindet sich gleichsam selbst. Er fördert die Kraft sich aus Not und Elend aufzuschwingen zur Verkündigung des Gedankens der Völkerverständigung und der Menschenliebe. Er verklärt dadurch seine Anklage zur Mahnung und wird beispielge­bend dafür, daß alle Menschen sich verstehen können, wenn sie in erster Linie daran dächten, ’nur‘ Menschen sein zu wollen. Vielleicht kommt diese Tendenz heute schon wieder etwas spät; denn die gegenwärtige Entwicklung auf allen Gebieten wird ihr wahrhaft nicht gerecht. Alle die aber, die selbst in sich die Bereitschaft zur Liebe und den Willen zur Verständigung tragen, werden diesen Film verstehen.

Bayerische Zeitung, Regensburg, 24. März 1949

Mit dem Film MORITURI wollte Artur Brauner von der CCC gewiß kein Geschäft machen. Er wollte mit Unterstützung des bewährten Regisseurs Eugen York und solch ausgezeich­neter Darsteller wie Lotte Koch, Winnie Markus, Hilde Körber, der jungen Catja Görna, Joseph Sieber, Walter Rich­ter, Karl-Heinz Schroth und Siegmar Schneider den Verfolg­ten, den Gepeinigten und Toten, den Opfern des nationalsozialistischen Staates ein Denkmal setzen. Er wollte die Menschen aufrufen, sich zu besinnen, zueinander zu finden, aus all dem Leid der vergangenen Jahre die Folgerungen zu ziehen, die notwendig sind, daß sie „Menschen sein können, und mensch­lich, wie es sich gehört“.

Das war die Absicht, die dem Film MORITURI zugrunde liegt. Sie wurde nicht verwirklicht. Statt des ‚Denkmals‘ ent­stand ein Plakat, das schreit, wo es überzeugen sollte und schweigt, wo predigen oder schreien. Der Film hat keine Handlung im üblichen Sinne. Er schildert, wie Menschen verschiedener Nationen, dem Tod geweihte Flüchtlinge, sich vor den SS-Häschem und deutschen Truppen in einem Wald nahe Warschau verbergen. (…) Nicht deshalb, weil unange­nehme und unbequeme Erinnerungen wieder hervorgerissen werden, nicht, weil er die geschichtlichen Geschehnisse nur als unwirklichen Hintergrund benutzt, bleibt der Film ohne die Wirkung, die man ihm wünschen muß. Die Zuschauer verlassen das Theater mit dem deutlichen Gefühl, hier will man uns zeigen, daß wir ausgestoßen sind, nicht teilhaben sollen an der Welt, in der Menschen und Völker sich vertra­gen und verstehen können. Gerade das Gegenteil möchte MORITURI sagen. Und weil der Film sich nicht verständlich machen kann (…), deshalb wurde er nicht das Denkmal, das wir brauchen, um aus den Leiden der Hingemordeten die Lehren zu ziehen, die die Grundlage bilden für jene Welt, nach der sich nicht nur die ‚Todgeweihten‘ auf der Leinwand sehnen.

Lgn., in: Hannoversche Presse, 27. August 1949

 

Für die Goethe-Stiftung  ist „MORITURI“ – EIN FILMISCHES DENKMAL FÜR DIE TOTEN.

„Fast dokumentarisch entwickelt, ist der gut gespielte und glänzend fotografierte Film, der sich im ersten Teil eng an Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“ anlehnt, eine herausragende deutsche Produktion der ersten Nachkriegsjahre.“ So urteilt der Filmdienst über den Film.

Über die Jahrzehnte gesehen ist die Kritik nicht so einhellig positiv.

 

Die Hersteller des Films machen sich nicht die Mühe, die Verbrüderungsgemeinschaft der hier gezeigten Menschen als Ergebnis von Einsichten und Erkenntnissen erscheinen zu lassen. Die praktizierte Verbrüderung wird lediglich durch die Tatsache motiviert, dass sich die Menschen in einer Ausnahmesituation befinden: Sie werden gemeinsam von einer sie bedrohenden Macht verfolgt. Für den Filmbetrachter des Jahres 1948 besteht eine solche Ausnahmesituation nicht. Damit verliert die im Film dargestellte Argumentation ihre Überzeugungskraft. Das Motiv für die Verbrüderung ist auf die Nachkriegszeit nicht mehr übertragbar.

Peter Pleyer: Deutscher Nachkriegsfilm 1946-1948, Münster 1965

 

(…) Es benötigt nicht viel Fantasie, um sich die Schwierigkeiten vorzustellen, die sich vor einem jungen Produzenten auftürmten, als er unmittelbar nach dem Ende des 2.Weltkriegs im zerstörten Deutschland versuchte, ein Filmprojekt auf die Beine zu stellen. Doch mit einem derartig großen Widerstand hatte Arthur Brauner, ein überlebender polnischer Jude, nicht gerechnet, als er bei den Besatzungsmächten um eine Genehmigung nachsuchte. Sein selbst verfasstes Drehbuch trug autobiografische Züge in der Beschreibung von Flüchtigen und Untergetauchten, die sich unter lebensunwürdigen Umständen vor der SS und der Wehrmacht versteckten, aber trotz der kritischen Sichtweise auf die unmittelbare Vergangenheit brauchte er lange, um mit den Dreharbeiten beginnen zu können – zudem erst nach dem Erfolg mit der Komödie „Herzkönig“ (1947), der ihm die notwendigen finanziellen Mittel einbrachte. (…)

aus: Udo Rotenberg bei Grün ist die Heide. Der deutsche Film1930 bis 1980,  15.08.2014 

Dieser Film lebt von der Kameraarbeit. Werner Krien komponiert hoch expressive Bilder, die an die Kunst eines F.A. Wager oder Karl Freund aus den 20er Jahren anknüpft, obwohl er nur einen Bruchteil jener Ausstattung zur Verfügung hatte, die komplex fotografierte Filme erfordern. Zur Entstehungszeit dieses Films gab es nichts. > weiter
 
Werner Kriens Meisterwerk – Falk Schwarz auf filmportal.de – 26.12.2015

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