Irgendwo in Berlin (1946)

Inhalt

Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertreiben sich die Kinder in Berlin die Zeit mit Kriegsspielen in den Ruinen. Gustav erwartet mit seiner Mutter auf den Resten ihrer ehemaligen Großgarage die Rückkehr des Vaters aus der Gefangenschaft, damit der Neuaufbau beginnen kann. Doch als der Mann aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, weicht die Freude einer großen Enttäuschung: er ist physisch und psychisch ein Wrack und nicht dazu in der Lage, sich dem Wiederaufbau der familieneigenen Großgarage zu widmen Die Kinder, allen voran der Bandenführer „Kapitän“, beschimpfen ihn als „dreckigen Jammerlappen“. Einzig Freund Willi, der hält zu Gustav. Dann kommt Willi ums Leben. Als „Kapitän“, der Anführer der Kinderbande, Willi einen Feigling nennt, glaubt der sich zutiefst einsam fühlende Junge seinen Mut beweisen zu müssen: Er klettert auf den Giebel einer Hausruine und stürzt ab. Sein tragischer Tod bringt die Freunde und die Erwachsenen zur Besinnung. Die Jungen geben das Kriegsspiel auf und motivieren Gustavs Vater zum Neubeginn.

Produktionsland Deutschland (SBZ)
Erscheinungsjahr 1946
Länge 85 Minuten
   
Stab
Regie Gerhard Lamprecht
Drehbuch Gerhard Lamprecht
Produktion DEFA
Musik Erich Einegg
Kamera Werner Krien
Schnitt Lena Neumann
DarstellerInnen
  • Harry Hindemith: Iller
  • Hedda Sarnow: Frau Iller
  • Charles Knetschke: Gustav Iller
  • Hans Trinkhaus: Willi, sein Freund
  • Siegfried Utecht: „Kapitän“
  • Hans Leibelt: Eckmann
  • Paul Bildt: Birke
  • Fritz Rasp: Waldemar
  • Walter Bluhm: Onkel Kale
  • Lotte Loebinger: Frau Steidel
  • Gerhard Haselbach: Hansotto, ihr Sohn
  • Magdalene von Nussbaum: Frau Schelp
  • Lilli Schoenborn: Frau Timmel
  • Karl Hannemann: Kriminalbeamter
  • Gaston Briese: Herr Timmel
  • Walter Strasen: Kommissar
  • Dieter Bauer: „Spitzmaus“
  • Georg Kröning: Arzt
  • Edda Meyer: Lotte
  • Isolde Laugs: Frau mit Einholtasche
  • Hans Alexander: Stotterer
  • Peter Marx: 1. Verfolger
  • Franz Rohn: 2. Verfolger
  • Eduard Wenck: Schneidermeister
  • Käte Jöken-König: Portierfrau

 

>> … nannten wir Lamprecht nicht einen Dichter? Wir unterstreichen diese Behauptung und stellen fest, daß dieser Bilderpoet tief in die Herzen unserer von Hitlerbarbarei und Bombenkrieg geformten Ruinenjugend gesehen hat und darin las, daß es keine rettungslos verlorene Generation ist. Und ausgehend von dieser frohen Erkenntnis, woran eine gewisse Skepsis gegenüber den älteren „Volksgenossen“ zweifellos mitbestimmend sein mochte, spann Lamprecht seinen optimistischen Traum vom Wiedererstehen Berlins. […] Die höhere dichterische Wahrheit ist, daß dies überall in der deutschen Trümmerwelt geschehen konnte. Hoffen und wünschen wir, daß insbesondere die deutsche Jugend in Ost und West Gelegenheit finden werde, aus diesem Film das Gleichnis zu ziehen.
Peter Kast, in: Vorwärts, Berlin, 2012.1946

Gerhard Lamprecht führt eine bewegliche, rastlose und forschende Regie. Er späht seinen Gestalten gerne nach, er belauert sie bei ihren kleinsten und alltäglichsten Verrichtungen, ihm liegt das Mosaik mehr als das al fresco. Auch sein Buch ist locker und skizzenhaft-detaillistisch angelegt, es ging ihm augenscheinlich weniger um eine konsequent durchkomponierte Story, als darum, ein Höchstmaß an Beobachtungen und Bezüglichkeiten an die thematische Schnur zureihen.

Walter Lennig, in: Berliner Zeitungn, 2.12.946

 

„Als zeitgeschichtliches Dokument sehenswert.“ So ist es beim Filmdienst zu lesen. Auch Thomas Hartmann hält den Film in seinem MDR-Beitrag vom 22.12.2021 auch heute noch für absolut sehenswert. Dem schließen sich auch die Autorinnen und Autoren aus dem DEFA-Kinderfilm-Projekt 1996 an und empfehlen den Film „lls besonder geeignet für die medienpädagogische Arbeit“.

Sybille Wirsing kann dem Film dagegen 1995 angesichts der bundesrepublikanischen Erstaufführung im ZDF nicht viel abgewinnen. Falk Schwarz unterstellt den Filmemachern, dass „die alte Ideologie noch tief im System“ stecke.

 

Trümmer, sollte man meinen, hat es in der Stadt genug gegeben. Aber als Gerhard Lamprecht 1946 … „lrgendwo in Berlin“ drehte, ließ er sich in Babelsberg eineRuinenkulisse aufschichten, die aussieht wie geleckt. Der Neorealismus war noch nicht erfunden, und Lamprecht war kaum der Mann, ihn vorwegzunehmen. Er muß den Kopf voll von Resten aus den zwanziger Jahren gehabt haben und meinte nicht anders, als daß es jetzt wieder im alten Stil losgehen würde. […] Das ZDF hat diesen Babelsberger Nachkriegserstling … als bundesrepublikanische Erstaufführung und als
ein Dokument der frühen Jahre gesendet. Zu sehen war nicht ohne Betroffenheit, wie gut es sich mitten in der Stadtwüste, wo es, denkt man, nicht viel mehr gegeben hat als die nackte Wahrheit, Versteck spielen ließ.

Sybille Wirsing in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.05.1975

 

Die Außenaufnahmen für „lrgendwo in Berlin“ hatten schon vor der offiziellen DEFA-Gründung im Mai 1946 begonnen. Es war bereits der dritte Film, der das DEFA-Signet trug (nach Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns. und Milo Harbichs »Freies Land“), aber der erste, der auf ein Kinder- und Jugendpublikum zielte. Lamprecht schien durch den internationaien Erfolg der Erich-Kästner-Adaption von »Emil und die Detektive. (i93r, Drehbuch: Billy Wilder) prädestiniert für eine spannende und lebendige Geschichte über das Schicksal von Kindern in der Nachkriegszeit. Seinen sozialkritischen Blick hatte er bereits in mehreren Filmen der zwanziger Jahre unter Beweis gestellt, und auch die eher unpolitischen Stoffe, mit denen er die Nazizeit überdauerte (u.a. 1937 die Literaturverfilmung ,,Madame Bovary“, mit Pola Negri), fielen durch ihre genaue Milieuzeichnung und Figurengestaltung auf.

»lrgendwo in Berlin« ist ein Gegenwartsfilm, der sich mit den psychischen Verletzungen und sozialen Nachwirkungen des Krieges, mit den äußeren und inneren Trümmerlandschaften jener Zeit auseinandersetzt. Der allgemeinen Orientierungslosigkeit stellt Lamprecht die Lebenslust und Unbeschwertheit der Kinder, ihren Witz, ihre Hilfsbereitschaft und ihren praktischen Gerechtigkeitssinn entgegen. Die erfolgsträchtige Anlehnung an die Kästnerschen Figuren, deren Esprit auch diesem Film über große Strecken Frische verleiht, ist offensichtlich. Neben Heiterkeit wird Pathos zu einem weiteren wesentlichen Moment; Lamprecht will nicht nur aufzeigen, sondern auch überzeugen. Die filmische Gestaltung seiner hohen ethischen Ansprüche (demonstriert zum Beispiel durch das Zertreten von Gustavs Spielzeugpanzer, die Wut des Vaters über Willis Schwarzmarktpaket, den kriegsversehrten Heldengläubigen oder Willis Sterbeszene) verstärkt allerdings den Eindruck einer gewissen Abstraktheit seiner Moralvorstellungen.Äußerst sparsam, doch sehr effektvoll werden Großaufnahmen eingesetzt. Werner Krien, erfahrener UFA-Kameramann, unterstützt damit die Melodramatik des Geschehens, zeichnet sich ansonsten aber durch einen eher sachlichen Blick auf die Geschichte aus. Die meisterlichen Licht- und Schatteneffekte, ihre künstlerische Expressivität (besonders in der Sterbeszene), sind so im späteren DEFA-Kinderfilm kaum mehr zu sehen. In der Schlußeinstellung appelliert der Regisseur mit anrührender Geste an den Wert des gemeinsamen Schaffens – eine Szene, die in Ost wie West ihre Gültigkeit haben konnte.
Der Film setzt in seinen Intentionen eindeutig auf die Jugend: „Bau auf, bau auf“- Stimmung Ost und Wirtschaftswunder West. Eine Trümmerfrau sucht der Zuschauer allerdings vergebens in der durchchoreographierten Arbeitsszene auf der Großbaustelle. Handeln ist Männersache, eine Tatsachenfälschung, die dem Zeitgeist entspricht. Die Männer sind wieder zurück und bestimmen von nun den Alltag – auch den medialen. Insgesamt hinterläßt der Film einen episodischen Eindruck. Lamprecht hat möglichst viele Probleme behandeln wollen und rast in kurzen Sequenzen durch die Geschichte. In einem Tempo, das zwar manchmal zu Lasten der Figuren und der Handlung geht, das andererseits aber über die manchmal schwerfälligen Phasen hinweghilft, in denen die Erwachsenen und ihre Philosophien im Mittelpunkt stehen.
Die Stärken des Films liegen zweifellos in der Authentizität von Dialogen und Schauplätzen sowie der konsequenten Erzählperspektive aus Sicht der Kinder. Für Gerhard Lamprecht wird es der letzte große filmische Erfolg. Bei der DEFA dreht er noch einen Unterhaltungsfilm (»Quartett zu funft., 1949), ähnlich bedeutungslos wie seine fünf weiteren Werke im Westen. Die unbestrittenen Qualitäten von „Irgendwo in Berlin“ aber, das haben Veranstaltungen 1994 mit Schülern der zweiten bis fünften Klasse in Ost und West gezeigt, sichern dem Film auch heute noch ein begeistertes Kinderpubiikum.

aus: Zwischen Marx und Muck. DEFA-Filme für Kinder. Hrsg. von Ingelore König, Dieter Wiedemann und Lothar Wolf, Berlin 1996, S. 72/73

 

Woher kommt das ambivalente Gefühl, das dieser Film hinterlässt? Hängt es damit zusammen, dass in der Reihe „Brüche und Kontinuitäten“ der Defa-Stiftung und der Friedrich-Murnau-Gesellschaft der Film „Diesel“ mit diesem Film des Regisseurs Gerhard Lamprecht in einem Paket zusammengeschnürt ist? „Diesel“ lässt sich nicht so leicht abschütteln. Daran muss Lamprecht sich messen lassen. Die spielenden Kinder in der zerbombten Großstadtlandschaft Berlins haben viel zu tun mit Lamprechts Erfolg „Emil und die Detektive“. > weiter

Falk Schwarz: Die Botschaft hör‘ ich wohl… Filmportal.de –

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