Filmanalytische Anmerkungen zu „Asylrecht“ und „Flüchtlingsnot an der Zonengrenze“

Bei einem zweiten Beispiel, das ich Ihnen vorstellen möchte, ist die Wiederverwendung historischer Filmbilder problematischer. Im Jahre 1948/49 dreht der Dokumentarfilmer Rudolf W. Kipp im Auftrag der britischen Militärregierung einen Dokumentarfilm über Flüchtlinge in der britischen Zone. Unter dem Titel REPORT ON THE REFUGEE SITUATION JAN. 1949 wird der 35minütige Film im selben Jahr fertig gestellt und kommt unter dem Titel ASYLRECHT 1950 auch in deutsche Kinos. Zum Inhalt:

Am Anfang des Films sieht man Menschen beim Überqueren der Grenze von der SBZ in die britische Zone, anschließend eine Scheune, die den Flüchtlingen als Schlafplatz dient. Im Folgenden werden Alltagsszenen aus verschiedenen Flüchtlingsunterkünften in Niedersachsen und Schleswig-Holstein gezeigt: Schloss Eutin, ein Bunker in Braunschweig, das Aufnahmelager Ehndorf bei Neumünster, das Durchgangslager Uelzen. Es folgen Bilder von zurückkehrenden Kriegsgefangenen und Grenzübergängen zwischen den Zonen: Überquerung der „grünen“ Grenze, Sicherung der Grenze durch Ost- und Westzonenpolizei, ein ankommender Autobus mit Flüchtlingen. Dann ist zu sehen, wie die Flüchtlinge in die Lager der Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gebracht werden. Im niedersächsischen Lager in Uelzen werden die Neuankömmlinge bei der Essensausgabe und bei der ärztlichen Untersuchung gezeigt. Anschließend wird die Einzelfallprüfung im Lager Uelzen an zahlreichen Beispielen aufgenommener und abgelehnter Flüchtlinge dokumentiert. Es ist zu sehen, wie die betreffenden Personen vor den zuständigen Beamten treten und dieser anhand ihrer Papiere eine Entscheidung fällt. Dabei werden große Härten deutlich, etwa wenn eine hochschwangere Frau ebenso abgewiesen wird wie eine Familie mit sieben Kindern. Am Schluss zeigt der Film das Schicksal der abgewiesenen Flüchtlinge: Sie haben die Möglichkeit, in die russische Zone zurückzukehren oder illegal in der britischen Zone zu bleiben.

Die Produktionsgeschichte dieses Films ist einigermaßen gut bekannt und von mir an anderer Stelle dargestellt worden, basierend auf Dokumenten, die sich im Nachlass von Herrn Kipp finden.[5]Verkürzt lässt sich sagen, dass Rudolf W. Kipp – tief beeindruckt vom Schicksal und Zustand der Flüchtlinge – im Laufe der Produktion des Films einen eigenen beobachtenden Stil entwickelte. Statt einen ursprünglich geplanten optimistischen Ausblick im Zusammenhang der britischen Re-orientation-Politik zu geben, bemüht sich der Film um ein tiefes Verständnis für die Not der Flüchtlinge, zeigt deren hilfloses Umherwandern, das partielle Abgewiesenwerden und erlöst den Zuschauer nicht aus einer beunruhigenden Situation. Die einzelnen Filmaufnahmen sind sehr zeitnah in den Film eingeflossen und nur als solche – also nicht als Vorschnitt-Material – erhalten. Daher hat die erste Fassung des Films den Charakter einer Primärquelle.

ASYLRECHT, der heute als ein Klassiker des Dokumentarfils gilt, wurde bereits kurz nach seiner Erstaufführung international beachtet und gewürdigt, vor allem in Großbritannien und in den USA. Allerdings wollte die große Mehrheit des deutschen Filmpublikums ASYLRECHT nicht sehen. Im gleichen Jahr, in dem mit SCHWARZWALDMÄDEL und GRÜN IST DIE HEIDE äußerst erfolgreiche Heimatfilme entstanden, die ein ganz anderes Flüchtlingsbild entwarfen, hieß es im Evangelischen Filmbeobachter zu ASYLRECHT: „Kein Kino will ihn spielen, kein Publikum sehen“. Einer der bedeutendsten deutschen Dokumentarfilme der frühen Nachkriegszeit verschwindet für lange Zeit aus der deutschen Öffentlichkeit.

Ende der 1950er Jahre, als der Wiederaufbau sich dem Ende zuneigt und die Integration der Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die bundesrepublikanische Gesellschaft weitgehend abgeschlossen ist, stellt das Münchner Institut für Film und Bild (FWU) – zuständig für die Produktion von Unterrichtsfilmen – einen Film her, der aus dem Bildmaterial von ASYLRECHT zusammengeschnitten ist. Für diesen neunminütigen Film mit dem Titel FLÜCHTLINGSNOT AN DER ZONENGRENZE 1948 benutzt das FWU nur ¼ des ursprünglichen Bildmaterials und montiert die Szenenfolgen um. Es fällt auf, dass neben Kürzungen und Umstellungen etwas vollständig fehlt: die in ASYLRECHT gezeigte Kooperation von Ost- und Westzonenpolizei sowie ein Hinweis darauf, dass ein Teil der Flüchtlinge nicht aufgenommen, sondern in die damalige Ostzone zurückgeschickt wurde. Der Film endet mit Bildern, die Flüchtlinge bei verschiedenen Tätigkeiten, z.B. beim Kochen im Auffanglager zeigen. Dieser Film wird 1959 als stumme Fassung hergestellt, was auch daran gelegen haben mag, dass die damaligen Schulen in der Regel noch mit Stummfilmprojektoren ausgerüstet waren. Zur Erläuterung ist dem Filmstreifen ein Beiblatt hinzugefügt, das den fehlenden Ton ersetzt. Dort heißt es:

„Bei Nacht und über unwegsames Gelände kommen die Flüchtenden über die Grenze. Diese Vorsicht ist geboten, denn die kommunistisch geleitete sog. Volkspolizei der SBZ hat den Auftrag, die Zone abzuriegeln. Pausenlos patroullieren die Doppelposten entlang der Zonengrenze, die durch Schilder, abmontierte Eisenbahnschienen, Straßensperren, Waldschneisen und Brachstreifen systematisch zum Eisernen Vorhang ausgebaut wurde“. So beginnt das „Erläuterungsblatt“. Offenbar um den Kontrast zu den Filmbildern nicht allzu groß erscheinen zu lassen, wird dann eingeschränkt: „Die Absperrung war allerdings in den ersten Nachkriegsjahren noch nicht so streng.“ An einer einzigen Stelle wird in dem zwei Seiten umfassenden Papier angedeutet, dass nicht alle Flüchtlinge in gleicher Weise aufgenommen wurden: auf den Beamten Bezug nehmend, der die Einzelfallprüfung leitet, heißt es: „ …fällt er seinen Spruch: aufgenommen oder abgelehnt.“ Im Zusammenhang der Filmbilder muss man allerdings annehmen, dass diejenigen, die „abgelehnt“ wurden, lediglich keine Wohnungszuweisungen erhielten, sondern in den Notlagern (Schlösser, Bunker, Lager) verblieben.

Hier ist in der Verwertungskette der historischen Filmbilder eine Bedeutungsverschiebung erfolgt. Diese filmische Bearbeitung der Flüchtlingsproblematik im Nachkriegsdeutschland erweist sich als eine retrospektive Sicht Ende der 1950er Jahre, die unverkennbar im Zeichen des Kalten Krieges mit den bekannten Feindbild-Stigmatisierungen steht. Im Vordergrund steht nicht nur die Flüchtlingsnot an sich, wie der Titel annehmen lässt, sondern diese ist vor allem Anlass, um einen Schuld zuweisenden Blick auf die deutsch-deutsche Grenze zu werfen. Fast überflüssig zu sagen, dass sich in dem Film kein Verweis darauf findet, wo das Filmmaterial eigentlich herkommt. Klassifiziert werden kann der Film als Sekundärquelle mit geringem bzw. problematischem Traditionswert. Dafür gewinnt er insofern an Überrestwert (dafür ist er eine Primärquelle!), als er uns heute – unbeabsichtigt – etwas über die Kalte-Kriegs-Rhetorik der späten 1950er Jahre mitteilt. Dies wird unter Einbeziehung des Kommentars vor allem im Vergleich mit der Ursprungsfassung deutlich.

Die neunminütige Stummfilmfassung blieb allerdings auch damals nicht unwidersprochen. Noch im Herstellungsjahr meldeten sich Kenner des Film-Originals beim FWU und zeigten sich „verwundert, dass die Neufassung ‚bei einem Kochtopf endet‘, während Kipps Film ja mit der Szenenfolge unruhvollen Wanderns der Flüchtlinge und des Wartens an der Autobahn endet.“[6] So wurde noch im Jahre 1960 eine weitere Fassung eines Unterrichtsfilms zur Flüchtlingsthematik in der Nachkriegszeit in Angriff genommen, die – so die treibende Intention – der Ursprungsfassung näher kommen sollte. Angestrebt wurde eine vertonte Fassung mit ca. 20 Minuten Länge. Rudolf W. Kipp, der Verfasser des Ursprungsfilms, erklärte sich bereit, ein Schnittkonzept sowie einen Kommentar herzustellen. „Bei der Bearbeitung der vorliegenden Fassung bemühte ich mich – trotz der Auflage, den (Ursprungs-)Film um 50% zu kürzen – den ursprünglichen Stil und damit die indirekte Aussage zu wahren. Es blieb auch hier der Verzicht auf rein filmische Wirkungsmittel, wie rasanten Schnitt, optische Blenden, nachträgliche Geräuschvertonung …Gewahrt blieb auch die vielleicht übermäßige Sachlichkeit, die jedoch den Dokumentarfilm zu einem Zeitdokument werden lassen kann …“ [7]

Dieser 20minütige Film erhielt ebenso wie sein neunminütiger Vorläufer den Titel FLÜCHTLINGSNOT AN DER ZONENGRENZE 1948. Insgesamt entspricht diese längere Fassung im Bildmaterial, in der Szenen-Reihenfolge, im Kommentar und in der Gesamtaussage sehr weitgehend dem Ursprungsfilm ASYLRECHT. Sucht man hier nach zeittypischen Veränderungen und Kürzungen, so fällt auf, dass einige Szenen im Sinne einer vorsichtigen „moralischen Säuberung“ geschnitten wurden: es fehlen Bilder, in denen eine ältere, stark abgemagerte Frau mit bloßem Oberkörper gezeigt wird; in der Einzelfallprüfung fehlt u.a. die hochschwangere Frau und bei einer anderen Frau fehlt der Hinweis, dass ihr Mann inzwischen mit einer anderen zusammenlebt.

Eine Quellenkritik führt letztlich zu dem Ergebnis, dass auch dieser Film aus dem Jahre 1960 keine Primärquelle ist, allerdings gewinnt er gegenüber seinem neunminütigen Vorgänger an Wert als Traditionsquelle. In der Art der Gestaltung, der Auswahl bzw. des Weglassens bestimmter Motive hat er zudem einen Überrestwert, der allerdings gegenüber dem bewussten Bericht als weniger bedeutend erscheint und auch nur in Kenntnis des Vergleichs und des Produktionshintergrundes erkannt werden kann. Wir haben also letztlich drei unterschiedliche Dokumentarfilme, die auf das gleiche Filmmaterial zurückgehen, aus diesem aber in unterschiedlicher Weise auswählen, das Material organisieren und kommentieren. Daraus ergibt sich ein jeweils unterschiedlicher Quellenwert. Alle drei Filme standen und stehen in einigen Stadt- und Kreisbildstellen bzw. Medienzentren noch heute für die historische Bildungsarbeit zur Verfügung und bei keinem der Filme finden sich meines Wissens Begleitmaterialien, die die jeweilige Entstehungsgeschichte reflektieren und in einen historischen Kontext einordnen.

Auszug aus: Peter Stettner: Dokumentarfilm als historische Quelle (2008)

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