Die unheilige Allianz der IG Farben

Das Urteil des IG Farben Prozess in Nürnberg

Der Prozeß endete am 12. Mai 1948 nach erschöpfenden 152 Verhandlungstagen. Man hatte 189 Zeugen gehört. Das Protokoll umfaßte 16000 Seiten. Mehr als 6000 Dokumente und 2800 schriftliche Aussagen waren als Beweismittel vorgelegt worden. Hinzu kamen noch eine Anzahl von Schriftsätzen, Anträgen, Beschlüsse zum Verfahren und andere juristische Mittel, die zur Durchführung eines Prozesses gehören.
Das Gericht sah sich vor die Aufgabe gestellt, seine intellektuelle Spaltung und emotionelle Erschöpfung zu überwinden, um aus dem Berg von Tatsachen ein rechtlich haltbares und historisch angemessenes Urteil zu sprechen. Am 29. Juli 1948, fast ein Jahr nach Prozeßbeginn, trat das Gericht zusammen, um seine Entscheidung und die einzelnen Strafmaße zu verkünden. Richter Hebert bat um Gewährung einer zusätzlichen Frist zur Formulierung einer abweichenden Meinung. Sein Antrag wurde von den Richtern Shake und Morris abgelehnt.

Bevor er zur Urteilsverkündung überging, verwies der Vorsitzende Richter Shake auf ein Ereignis, das in den Morgenzeitungen berichtet worden war. Eine mysteriöse Explosion hatte die Hochdruckanlagen der BASF in Ludwigshafen zerstört und fast zweihundert Arbeiter getötet und mehrere tausend verletzt. Es war eine gespenstische Erinnerung an die nie erklärte Explosion in Ludwigshafen 1921. In Würdigung des tragischen Vorfalls erklärte Richter Shake: „Das Tribunal hat eine informelle Nachricht über den tragischen Vorfall erhalten, der sich gestern abend in Ludwigshafen ereignet hat. Ich bin sicher, im Namen des Tribunals und aller hier Anwesenden zu sprechen, wenn ich Trauer über die Verstorbenen ausdrücke, ihrer gedenke und die Familien der Verstorbenen unseres Beileides versichere.“ Das Protokoll hielt danach fest: „Die Versammlung erhob sich in stummer Anteilnahme.“
Rudolf Dix, der Verteidiger von Hermann Schmitz, erhielt die Erlaubnis, zu antworten, und er bedankte sich beim Gericht im Namen der Verteidigung, der Angeklagten und der „unglücklichen Opfer“.
Nach dieser kurzen und „ergreifenden“ Zeremonie begann das Gericht mit der Verlesung seiner Entscheidung. Bei den Anklagepunkten eins und vier, die den Angeklagten Durchführung eines Angriffskrieges und Verschwörung vorwarfen , verwies das Gericht auf die Entscheidungen aus dem ersten Kriegsverbrecherprozeß (Oktober 1946).

„Soweit die Aktivitäten der Angeklagten einen Beitrag zur Wiederaufrüstung Deutschlands bildeten, muß man eine Schuld der Angeklagten voraussetzen, da sie die Ergebnisse ihrer Bemühungen erkennen konnten . . . Die Anklage steht allerdings vor dem Problem, den Angeklagten nachzuweisen, daß sie nicht nur von der Wiederaufrüstung wußten, sondern auch erkannten, daß diese der Vorbereitung eines kriegerischen Überfalls diente. In diesem Bereich gibt es keine Ansätze, die über pure Spekulation hinausgehen.“

In Punkt eins und vier wurden alle Angeklagten freigesprochen. Im Punkt zwei der Anklage, Plünderung und unrechtmäßige Aneignung, definierte das Gericht die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld sehr genau.

„Der Tatbestand der Plünderung und unrechtmäßen Aneignung ist nach unserer Meinung eindeutig erfüllt, wenn der vorherige Besitzer gegen seinen Willen von seinem Besitz getrennt wird … Wenn die Zustimmung des Eigentümers nicht freiwillig erfolgte, sein Einverständnis durch Drohungen, Angriffe gegen seine körperliche Unversehrtheit, politischen Druck oder Ausnutzung der Stellung und Macht des militärischen Besatzers unter Umständen erzielt wurde, die eindeutig erkennen lassen, daß der Eigentümer gegen seinen Willen sein Eigentum aufgeben mußte, so ist dies ein eindeutiger Verstoß gegen die Haager Konventionen.“

Entsprechend dieser Definition wurden neun der Angeklagten schuldig gesprochen. Zu ihnen gehörten die prominentesten Vertreter des Direktoriums: Hermann Schmitz, Georg von Schnitzler, Fritz Ter Meer, Friedrich Jähne und Max llgner. Die anderen vierzehn Angeklagten wurden in diesem Punkt freigesprochen.
Punkt drei der Anklage, Sklaverei und Massenmord, war der herausragende Bestandteil des Verfahrens, was auch in der Stellungnahme des Gerichts deutlich wurde. Das Gericht beachtete die unbestrittenen Tatsachen des Terrors, den die Nazis sogar gegen ihre eigenen Bürger ausgeübt hatten, und berücksichtigte die Konsequenzen, mit denen jeder zu rechnen hatte, der die Anordnungen der Nationalsozialisten nicht befolgte. Das Gericht war deshalb nicht bereit, zu sagen, die Angeklagten hätten nicht der Wahrheit entsprechend ausgesagt, als sie angaben, ihre Mitwirkung bei dem Zwangsarbeitsprogramm sei nicht auf eine freiwillige Entscheidung zurückzuführen. Wenn die I.G. die Rolle des Unterdrückers abgelehnt hätte, wäre sie schließlich selbst zum Opfer geworden.

„Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Weigerung eines leitenden Angestellten der I. G., die vom Reich festgesetzten Produktionsprogramme zu erfüllen oder für die Erfüllung Sklavenarbeiter zu verwenden, eine Herausforderung bedeutet hätte, die als hochverräterische Sabotage behandelt worden wäre und sofort harte Vergeltungsmaßnahmen im Gefolge gehabt hätte. Es ist sogar glaubhaft bewiesen, daß Hitler die Gelegenheit, an einer führenden Persönlichkeit der I. G. ein Exempel zu statuieren, freudig begrüßt hätte.“

Nach dieser Stellungnahme blieb noch die Frage nach den Umständen, unter denen die Angeklagten sich auf einen Notstand berufen konnten. In seiner Urteilsbegründung stellte das Gericht sehr deutlich fest,

„daß der Befehl eines Vorgesetzten oder das Bestehen eines Gesetzes oder Regierungserlasses die Entschuldigung des Notstands nur dann rechtfertigt, wenn den von solchen Befehlen oder Gesetzen oder Erlassen Betroffenen keine dem Sittengesetz entsprechende Wahl des einzuschlagenden Weges verblieb. Daraus folgt, daß die Entschuldigung des Notstands nicht durchgreift, wenn derjenige, der sie für sich in Anspruch nimmt, selbst für das Bestehen oder die Ausführung solcher Befehle oder Erlasse verantwortlich gewesen ist, oder wenn seine Beteiligung das von diesen Anordnungen geforderte Maß überstiegen hat oder auf eigenes Betreiben erfolgt ist.“

Nachdem das Gericht auf diese Weise die Grenzen der Verteidigungsstrategie der Angeklagten festgelegt hatte, fuhr es fort mit einer Beschreibung der Tatsachen, die über Auschwitz vorlagen. Trotz der sachlichen und kurzen Darstellung führte die Verlesung der Fakten über Auschwitz zu einer emotionsgeladenen Atmosphäre, die auch durch eine juristisch korrekte Verfahrensweise nur schwer entspannt werden konnte.

„Fälle von menschenunwürdiger Behandlung kamen auch auf der Baustelle vor. Hin und wieder wurden die Arbeiter vom Werkschutz und den Vorarbeitern geschlagen, die die Gefangenen während der Arbeitszeit zu beaufsichtigen hatten. Manchmal kam es vor, daß Arbeiter zusammenbrachen. Zweifellos war ihre Unterernährung und die durch lange und schwere Arbeitsstunden hervorgerufene Erschöpfung der Hauptgrund für diese Vorfälle. Gerüchte über die Aussonderung aus der Zahl der Arbeitsunfähigen für den Gastod liefen um. Es steht außer Zweifel, daß die Furcht vor diesem Schicksal viele Arbeiter und insbesondere Juden dazu gebracht hat, die Arbeit bis zur völligen Erschöpfung fortzusetzen. Im Lager Monowitz unterhielt die SS ein Krankenhaus und einen Sanitätsdienst. Darüber, ob dieser Sanitätsdienst ausreichend war oder nicht, finden sich im Beweismaterial starke Widersprüche. Ob die Behauptungen der einen oder der anderen Seite mehr Glauben verdienen, kann dahingestellt bleiben; es steht jedenfalls fest, daß viele Arbeiter nicht gewagt haben, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, weil sie fürchteten, daß sie dann von der SS nach Birkenau gebracht werden würden. Die von dem Konzentrationslager Auschwitz zur Verfügung gestellten Arbeiter lebten und arbeiteten unter dem Schatten der Liquidierung.“

Obwohl das Gericht sehr deutlich darauf bestand, daß „die I. G. eine menschenwürdige Behandlung der Arbeiter nicht beabsichtigt oder vorsätzlich gefördert hat“, war es doch von den Beweisen beeindruckt, die die Verantwortlichkeit von Ambros, Bütefisch und Dürrfeld für die Beschaffung der Zwangsarbeiter belegten.
Das Gericht verschwendete keine Zeit zur Verurteilung der direkt an Auschwitz beteiligten Angeklagten. Ließ es über die Schuld von Ambros, Bütefisch und Dürrfeld keine Zweifel aufkommen, so gestaltete sich die Abhandlung der Angeklagten Krauch und Ter Meer etwas umständlicher. Während es auch für diese zu einem Schuldspruch nach Punkt drei der Anklage kam, wurden die übrigen Angeklagten unter diesem Punkt freigesprochen. Zum Abschluß verlas das Gericht die Urteile.

Die Entscheidung des Gerichts und des Strafmaß rief bei der Anklagevertretung heftigen Widerspruch hervor. Chefankläger Josiah DuBois hielt die Urteile für „leicht genug, einen Hühnerdieb zu erfreuen“. Als er den Gerichtssaal verließ, explodierte er: „Ich werde ein Buch hierüber schreiben, und wenn es das letzte ist, was ich jemals mache.“ Vier Jahre später erschien sein Buch: „The Devil’s Chemists“ (Die Chemiker des Teufels), ein emotionsgeladener Bericht über einen einmaligen Augenblick in der Geschichte der Wirtschaft, der Kriegsführung und der Rechtsprechung.

Auszug aus: Borkin, Joseph: Die unheilige Allianz der IG Farben. Frankfurt 1959, S. 136-139.


Anlage (Borkin, S. 207 f.):

Auszug aus der Urteilsbegründung im Nürnberger 1. G. Farben-Prozeß vom 29./30. Juli 1948

Die Urteilsbegründung folgt der Anklageschrift, die insgesamt fünf Anklagepunkte enthielt:
Anklagepunkt Eins und Fünf betraf
Planung, Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen und Einfällen in andere Länder, Verschwörung

Anklagepunkt Zwei betraf
Raub und Plünderung
Anklagepunkt Drei betraf
Versklavung und Tötung der Zivilbevölkerung, Kriegsgefangenen und Konzentrationslagerinsassen
Anklagepunkt Vier betraf
Mitgliedschaft in der SS

Im Anschluß an die Verlesung der Urteilsgründe gab das Gericht folgende Strafen bekannt:

Carl Krauch: 6 Jahre Gefängnis
Hermann Schmitz: 4 Jahre Gefängnis
Georg von Schnitzler: 5 Jahre Gefängnis
Fritz ter Meer: 7 Jahre Gefängnis
Otto Ambros: 8 Jahre Gefängnis
Ernst Bürgin: 2 Jahre Gefängnis
Heinrich Bütefisch: 6 Jahre Gefängnis
Paul Häfliger: 2 Jahre Gefängnis
Max llgner: 3 Jahre Gefängnis
Friedrich Jähne: 11/2 Jahre Gefängnis
Heinrich Oster: 2 Jahre Gefängnis
Walter Dürrfeld: 8 Jahre Gefängnis
Hans Kugler: 1 1/2 Jahre Gefängnis

Allen Verurteilten wurde die erlittene Untersuchungshaft auf die Strafen angerechnet.

Folgende Angeklagten wurden freigesprochen:
Fritz Gajewski, Heinrich Hörlein, August von Knieriem, Christian Schneider, Hans Kühne , Carl Lautenschläger, Wilhelm Mann, Karl Wurster, Heinrich Gattineau, Erich von der Heyde

Enttäuschte Gesichter: Die Anklagevertretung bei der Urteilsverkündung, 5. v. links ist
J. DuBois, 2. v. rechts T. Taylor (O.M.G.U.S.)

 


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