Der Verlorene (1951)

 

Inhalt

Dr. Karl Rothe entwickelt in den letzten Kriegsjahren ein bedeutsames Impfserum. Seine Verlobte leitet die Forschungsergebnisse heimlich ans Ausland weiter. Als sie Rothe den Verrat beichtet und er zudem erfahren muss, dass sie ein Verhältnis hat, kommt es zu einer Kurzschlusshandlung: Er tötet die Frau, die er liebt. Voller Reue erwartet Rothe seine Strafe, doch der Vorfall wird vertuscht. Den Nazis sind seine Forschungen wichtiger als Rothes Wunsch nach Sühne. Aber kann er mit der Schuld leben? Seinem Gewissen entkommt Rothe nicht; er muss zwanghaft weiter morden, bis er Hoesch nach dem Krieg wieder gegenübersteht und diesen nicht triebhaft, sondern aus Überzeugung tötet. Dann endlich findet er Erlösung, in dem er den Mut hat, nicht zur Seite zu springen, als ein Zug auf ihn zurollt.


Originaltitel Der Verlorene
Produktionsland Deutschland
Originalsprache Deutsch
Erscheinungsjahr 1951
Länge 98 Minuten
Altersfreigabe FSK 16
 
Regie Peter Lorre
Drehbuch Peter Lorre,
Benno Vigny,
Axel Eggebrecht
Produktion Arnold-Pressburger-Filmproduktion, Hamburg
Musik Willy Schmidt-Gentner
Kamera Václav Vich
Schnitt Carl Otto Bartning

Besetzung

  • Peter Lorre: Dr. Karl Rothe, nun Dr. Neumeister
  • Karl John: Hösch, nun Nowack
  • Helmut Rudolph: Oberst Winkler
  • Renate Mannhardt: Inge Hermann
  • Johanna Hofer: Frau Hermann
  • Eva-Ingeborg Scholz: Ursula Weber
  • Lotte Rausch: Helene, Frau im Zug
  • Gisela Trowe: Prostituierte
  • Kurt Meister: Preefke, Lagerleiter
  • Hansi Wendler: Rothes Sekretärin
  • Alexander Hunzinger: Betrunkener
  • Peter Ahrweiler: Oberstleutnant Marquardt
  • Josef Dahmen: Lieske, Lagerkantine
  • Hans Fitze: Barkeeper
  • Kurt Fuß: Kahlköpfiger Mann
  • Richard Münch: 1. Kriminal-Inspektor

 

Der beste Film, der in den Bendestorfer Ateliers in der Ära Rolf Meyer gedreht wird, ist eine Fremdproduktion. Die Junge Film-Union vermietet 1951 die Studios an die Arnold Pressburger Filmproduktion, München, die hier und im Atelier Hamburg-Heiligengeistfeld DER VERLORENE dreht.

Zum ersten und einzigen Mal führt der Remigrant Ladislav Loewenstein alias Peter Lorre Regie. In über sechzig Filmen hat der Mann mit dem Charaktergesicht bisher vor der Kamera agiert, darunter auch in Fritz Langs Meisterwerk M (1930). Um den Film auch visuell in das europäische Kino zu integrieren, verpflichtete Lorre den Kameramann Vaclav Vich, der dem Film einen naturalistischen und ungeschönten Schwarz-Weiß-Look in der Tradition des italienischen Neorealismus verlieh. Inhaltlich folgte Lorre hingegen der Tradition amerikanischer Film Noirs.

Bei den Filmfestspielen von Venedig 1951 wird für den Goldenen Löwen DER VERLORENE nominiert. In Deutschland wird er als künstlerisch bester deutscher Film 1951 mit dem „Bambi“ ausgezeichnet. Eine beantragte Bundesbürgschaft wird jedoch mit der Begründung abgelehnt, „dass der Film an sich gut sei, dass er aber höchstwahrscheinlich keinen Kassenerfolg darstelle“. Tatsächlich ist er bereits nach zehn Tagen aus den Kinos verschwunden. Peter Lorre kehrt enttäuscht nach Hollywood zurück.

Jurybegründung für die Verleihung des Prädikats „wertvoll“

Der Film schildert das Schicksal eines schwachen sensiblen Mannes, der durch den brutalen Eingriff einer brutalen Staatsform aus seiner Bahn geworfen wird und in einer pathologischen Anwandlung einen Mord begeht. Er muss, als er aus seiner schizophrenen Umnachtung erwacht, feststellen, dass der zum irdischen Richter berufene Staat, dem er sich, von seinem Gewissen getrieben und seiner Verantwortung bewusst, stellen will, die Sühne ablehnt, da er als Wissenschaftler diesem Staat wichtig ist. Es kommt dazu, dass der Staat die wissenschaftliche Arbeit dieses Mannes zu seinen verbrecherischen Zwecken auszunutzen gedenkt. Durch dieses Erlebnis gerät der Mann völlig ausser sich selbst. Bedrängt von dem Wissen um seine Schuld, dem eine Sühne versagt ist, wird der Mann fortgesetzt von Zwangsvorstellungen, die um den ersten Mord kreisen, geplagt. Zweimal gelingt es ihm, sich selbst zu entfliehen. Das dritte Mal erliegt er durch ein besonderes unbewusstes Entgegenkommen seines Opfers den ihn bedrängenden Gesichten. Eine Bombe zerstört sein Haus und er glaubt und hofft, aufgewühlt durch andere erschütternde Ereignisse der Zeit, dass die Vergangenheit und mit ihr seine Zwangsvorstellungen ausgelöscht seien. Nach dem Kriege trifft er den Mann, der sein persönliches Unheil verschuldet hat und in dem er die Verkörperung des korrupten Staatswesens sieht. Er erkennt, dass vergangene Schuld nicht verjähren kann. Er erschiesst den Betreffenden und lässt sein eigenes Leben auslöschen.

Die Handlung, die auf einer wahren Begebenheit beruht, ist mit einer so ungewöhnlichen Eindringlichkeit gestaltet, die schauspielerische Leistung von Peter Lorre und den eingesetzten anderen Kräften, die Regie und die Kamera sind von einer filmischen Ausdruckskraft, wie sie kein deutscher Film der letzten Jahre, wie sie kaum ein ausländischer Film der Nachkriegszeit gezeigt haben. Neben dieser ganz besonders künstlerischen Leistung steht aber auch die Tendenz des Films, die in so überaus notwendiger und eindringlicher Weise zeigt, bis zu welcher Vernichtung des Individuums ein diktatorisch gelenktes Staatswesen führen kann.

Die Kommission hat sich aus diesen Gründen mit Mehrheit entschlossen, dem Film das Prädikat „wertvoll“ zu geben. Nach längerer und eingehender Diskussion konnte die Kommission sich in ihrer Mehrheit nicht dazu verstehen, das Prädikat „besonders wertvoll“ zu verleihen. Hierfür war in erster Linie die Überlegung massgebend, dass es sich trotz der grausigen Konsequenzen, die die Umwelt verschuldet hat, im Anfang um eine Tat in pathologischer Umnachtung handelt. Hierdurch ist bedingt, dass dieser ersten Tat eine letzte Begründung fehlt. Jedenfalls kann sie nicht ohne weiteres mit den Zuständen unseres Staatswesens im Dritten Reich und auch nicht von der menschlichen Ebene allein her begründet werden. Wenn auch erkannt wird, dass der Film in seinem weiteren Verlauf eine ethisch und politisch positive Tendenz aufweist, so verbietet doch der makabre Ausgangspunkt die Zuerkennung des höchsten Prädikates.

https://www.fbw-filmbewertung.com/film/der_verlorene

 

DER VERLORENE war Lorres einzige Regiearbeit. Er schrieb auch den Roman, auf dem der Film basiert, und war Co-Autor des Drehbuchs. Lorre spielt Dr. Karl Rothe, einen deutschen Wissenschaftler, der versucht, sich an das Nachkriegsdeutschland anzupassen, aber von Schuldgefühlen für seine Verbrechen im Dritten Reich überwältigt wird. Deutlich beeinflusst vom expressionistischen Kino der Vorkriegszeit – einschließlich direkter Anspielungen auf seine Figur in Fritz Langs M (1931) – sind Lorres Schauspieler in ahnungsvollen Schatten oder gespenstischen Halblichtern gefangen.

 

Peter Lorres Abrechnung mit Nazideutschland und dessen Weiterleben im geistigen Humus der BRD ist ein Meisterwerk. Selbstredend ein unbequemes! Aber von den Machenschaften der Bürgerlichen im Nationalsozialismus sowie deren Auskommen in den ersten Nachkriegsjahren wollte man zum Auftakt des Adenauer-Erhard-Zeitalters nichts wissen. Zumal sind es formale Kriterien, die Lorres Der Verlorene Meisterschaft bescheinigen. Von den Regisseuren Michael Curtiz, Fritz Lang, John Huston, mit denen Peter Lorre als Schauspieler gearbeitet hatte, inspiriert und geschult, ist dieser einzige deutsche Film Noir 1951 dem Kinoschaffen Wolfgang Staudtes oder Helmut Käutners weit überlegen. „Wenn hier ein deutscher Noir gesucht wird, dann geht das über die Grenzen hinaus (…)“ schreibt Olaf Möller in seinem Essay Die gebrochenen Augen eines Toten zum Roman und zum Film Der Verlorene in der Buchausgabe von Peter Lorres Roman Der Verlorene (1996), denn er ist überzeugt: „Noir ist so zeit- wie länderübergreifend, parallel zum amerikanischen Noir entwickelte sich ein britischer und ein französischer Noir, um die zwei stärksten Parallelbewegungen zu nennen.“ Unzweifelhaft ist Der Verlorene, ein Film Noir, das fast verloren gegangene Opus Magnum des deutschen Nachkriegsfilms und beleuchtet eindrucksvoll die Person, die es schuf. Nach dem Drehbuch schrieb Lorre den gleichnamigen Roman, der 1996 erstmals veröffentlicht wurde.

der-film-noir.de, o.J.

 

Fazit: „Der Verlorene“ ist ein sperriges Glanzstück, dessen Genius sich im Gegensatz zu „M“ nicht unverzüglich erschließt. In präzisen und atmosphärischen Bildern greift es zahlreiche heikle Themen der Nachkriegszeit auf und unterlässt jedwede Bestrebung der Moralisierung: kein Zeigefinger weit und breit. Dem grandioser Peter Lorre sieht man in jeder Sekunde seiner Filmpräsenz die Schwermut und Lebensmüdigkeit seines Charakters an und auch die Nebendarsteller sind überzeugend besetzt. Lorres Regiedebüt ist kein leichter Film und erfordert vom Zuschauer ein Entgegenkommen. Hat man sich erst darauf eingelassen, erschließt sich „Der Verlorene“ als einer der herausragenden Filme der deutschen Geschichte, als ein essentielles Zeitdokument, dessen damalige Ablehnung ebenso viel über die Nachkriegsjahre aussagt, wie der Film selbst, der bis heute nichts von seiner verstörenden Kraft eingebüßt hat.

Die vollständige Kritik: Alex Todorov: Der Verlorene, bei filmstart.de

 

Die dumpfen Schatten der Vergangenheit, die zögerlich herankriechen, die unterschiedlichen Charaktere der beiden Hauptakteure sowie die ausführlichen Betrachtungen über Angst, Schuld und Sühne erschaffen eine dichte Spannung, innerhalb welcher sich in Rückblicken eine zutiefst hintergründige Geschichte offenbart, die zu Beginn des Films als tatsächlich geschehen ausgewiesen wird. Mit dieser Einführung unterstreicht Regisseur Peter Lorre sein mitunter durchaus provokatives Anliegen, das damals junge Nachkriegsdeutschland zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit seiner jüngsten Vergangenheit herauszufordern – vergeblich, denn Der Verlorene fand seinerzeit kaum Publikum und wurde nach nur wenigen Tagen Spielzeit schlicht aus dem Programm genommen.

Die privaten wie politischen Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus, die hier eine signifikante Verflechtung erfahren, verdichten sich um die tragische Figur eines Arztes, der durch die eigene Schuld traumatisiert und dadurch erneut zum Täter wird. Dieser Außenseiter, der im Gegensatz zu seinem stumpf-berechnenden Widersacher bei aller Resignation noch Fragmente einer humanistischen Haltung zeigt, holt so gemächlich wie konsequent zum letzten Aufbäumen in seinem erbärmlichen Leben aus. 1951 von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden mit dem Prädikat „Wertvoll“ ausgezeichnet – als erster Film der im selben Jahr gegründeten, heutigen Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) überhaupt – stellt Der Verlorene ein lange weithin unterschätztes, ganz hervorragendes Drama von schwerlastiger Ambivalenz dar, in dem ein Moloch an moralischen Modalitäten mitschwingt.

Marie Anderson:  Ein Moloch an moralischen Modalitäten,kino-zeit.de 

 

Eines der vergessenen filmischen Meisterwerke der fünfziger Jahre? Ein Weltstar kommt zurück nach Deutschland und dreht einen Film, der den Deutschen ihre Geschichte ins Gesicht schleudert. Einer der 100 besten deutschen Filme, sagt das Deutsche Filmmuseum – voreilig, wie ich finde. Damals wurde der Film nicht akzeptiert, vom Publikum nicht angenommen. > weiter

Die Zeitgenossen wehrten sich (…) gegen die düstere, als nihilistisch empfundene Stimmung des Films: Im beginnenden Wirtschaftswunder-Deutschland wollte man nicht mehr an die schuldbeladene Vergangenheit erinnert werden.

Michael Töteberg in Metzlers Filmlexikon

Mit quälender Direktheit zeichnet Lorre ein eindringliches, atmosphärisch stimmiges Portrait der Kriegs- und Nachkriegsjahre Deutschlands und der pathologischen Folgen des Nationalsozialismus. (…) Ein Film, der durch allegorische Details sowie ausdrucksstarke Kamera- und Montagearbeit überzeugt.

Thomas Kramer in Reclams Lexikon des deutschen Films

 

„Ungeachtet einiger Schwächen in der Verzahnung der Geschichte und der psychopathologischen Zeichnung ein atmosphärisch sehr dicht und quälend eindringlich gestalteter, hervorragend gespielter Film, der in der deutschen Nachkriegsproduktion seinesgleichen sucht und lange Zeit verkannt blieb.“

Lexikon des internationalen Films

Der Verlorene wäre in praktisch jedem Kontext bemerkenswert gewesen, als Produkt der flauen deutschen Nachkriegs-Filmindustrie ist er absolut phänomenal. Es war Lorres einziger Film Autor und Regisseur und ist eindeutig sein persönlicher Kommentar zu jener Seite von Deutschland, die ihn 1933 ins Exil drängte, genauso wie seine Darbietung als Hauptdarsteller als Neuinterpretation jener Psychopathenrolle erscheint, die er in M und vielen Hollywoodfilmen verkörpert hatte. Die Handlung, die durchwegs in Rückblenden entwickelt wird, zeigt, wie der Arzt und Forscher Rothe (Lorre) von den Nazis zu politischer Komplizenschaft gezwungen wird, indem sie seine emotionalen und psychischen Schwächen geschickt und kaltblütig ausnützen; alles daran (einschliesslich der expressionistischen Zuckungen in der Bildgestaltung) ist durchdrungen vom Geist der deutschen Vergangenheit, bis das heftige Melodrama zum Schluss den Film in die noch trostlosere Gegenwart katapultiert.

Tony Rayns: Time Out Film Guide

 

Mehr als ein halbes Jahrhundert scheint Zeit genug zu sein, um im Rückspiegel der Geschichte auf das traumatisierte Nachkriegsdeutschland und Peter Lorres einzigen Schreib- und Regiekredit zurückblicken zu können. Lorres Der Verlorene ist ein grüblerischer und furchtloser, aber wenig gesehener Versuch, sich wieder mit seiner Heimat zu verbinden (nach seinem 18-jährigen Exil in Paris, London und Hollywood), aber ebenso darauf ausgerichtet, seine Heimat in eine Wertschätzung der psychologischen Brutalität zu versetzen, die den Krieg möglich gemacht hatte.

> weiter (englisch)

Robert Keser (November 2007), „Der Verlorene“Cinémathèque Annotations on Film, no. 45

 

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