Das Haus in der Karpfengasse (1963/64)

Filmszene

Inhalt

Am 15. März 1939, als die deutschen Truppen in die „Goldene Stadt“ Prag einziehen, beginnt das Verhängnis auch für die Bewohner des Hauses in der Karpfengasse Nr. 115. Sie müssen alle bald ihre gewohnte Lebensweise aufgeben – oder um ihr Leben bangen. Aus der Geborgenheit des privaten Daseins gerissen, steht jeder von ihnen plötzlich vor der Entscheidung, wie er mit der Katastrophe umgehen soll. Menschen des Alltags, ohne igrendwelche Besonderheiten ihres Charakters, Bewohner irgendeines Hauses, von denen es Tausende – nicht nur in Prag – gibt, werden zu Opfern de NS-Terrors. Zunächst trifft es den Bäckermeister Wokurka, dann die alte Dame Frau Kauders und schließlich bleibt auch Bozena nicht verschont…

Regie: Kurt Hoffmann.
Regie-Assistenz: Helmut Schmid
Buch: Gerd Angermann; nach dem Roman von M. Y. Ben-GavrièI
Kamera: Josef Illik
Bauten: Bohumil Kulic
Schnitt: Dagmar Hirtz
Ton: Miroslav Hurka
Musik: Zdenka Liska

DarstellerInnen:
Edith Schulze-Westrum (alte Kauders)
Frantisek Filiporsky (alter Kauders)
Ladislav Kriz (Emil Kauders)
Wolfgang Kieling (Karl Marek),
Rosl Schäfer (Olga Marek)
Helmut Schmid (Leutnant Slesak)
Walter Taub (Salomon Laufer)
Hanna Vitova (Mali Laufer)
Peter Herrman (Ernst Laufer)
Tamara Kafkovä (Frieda Laufer)
Martin Gregor (Marcel Lederer),
Margit Weiler (Bertha Lederer)
Walter Buschoff (Herr Krauthammer)
Jiri Holy (Herr Klossmann),
Rudolf Hrusinsky (Karl Glaser)
Karl-Otto Alberty (Leopold Glaser)
Ludmilla Preskova (Anna Krummbein)
Vaclav Voska (Leo Mautner)
Eva-Maria Meinecke (Lilly Mautner)
Jana Brejchová (Bozena)
Ivan Mistrik (Milan Schramek)
Berno von Cramm (Behrend)
Jan Triska (Kolowrat)
Libuse Peskova, JosefBeyrl, Rudolf Deyl

Produzent: Independent Film GmbH, München/Westdeutscher Rundfunk, Köln; in Zusammenarbeit mit MFG-Filmgesellschaft mbH, München / Filmaufbau GmbH, Göttingen
Gesamtleitung, Produktionsleitung: Heinz Angermeyer
Drehzeit: 23.10. – 17 .12.1963
Drehort : Filmstudios Barrandov
Außenauftahmen: Prag.
Länge: 108 min, 2968 m (Kinofassung) / 175 min, 4960 m (Fernsehfassung).
Format: 35mm, s/w, l:l.33.
Erstsendung: 7.3./9.3./11.3.1965, ARD;
Kino-Uraufführung: 12.3.1965, Hamburg (Kinostart)

Auszeichnungen:

Prädikat: besonders wertvoll.
Deutscher Filmpreis 1965: Filmbänder in
Gold für den besten Film, beste Regie an Kurt
Hoffmann, bestes Drehbuch an Gerd Angermann,
beste Musik an Zdenka Liska, beste Darstellerin
an Jana Brejchota.

Der Film nach dem gleichnamigen Roman des israelischen Schriftstellers Ben-Gavriêl ist eines der wenigen deutschen Nachkriegslichtspiele, die sich mit dem Schicksal jüdischer Menschen während der NS-Zeit auseinandersetzen. Regisseur Kurt Hoffmann („Schloß Gripsholm“) konnte, trotz des prämiierten Drehbuchs (200 000 Mark), lange keinen Verleiher finden – jetzt vertreibt die junge und hochstrebende Firma »neue filmform heiner braun« die wirklichkeitsnahen Bilder der NS- und SS-Vergangenheit. Erst die Finanzhilfe des Westdeutschen Rundfunks machte den Film möglich; er wurde deshalb, noch vor dem Kinostart, als dreiteiliger Fernsehbeitrag zur »Woche der Brüderlichkeit« gesendet. Die harte Szenenfolge über die stets tragischen Geschicke der jüdischen Karpfengasse-Bewohner hat nur einen Schönheitsfehler: Die Film-Karpfengasse ist nicht die echte Prager Karpfengasse, sondern die Meiselgasse.

 

Zwei Tage nach der Verjährungsdebatte im Bundestag wurde während der „Woche der Brüderlichkeit“ in Hamburg ein deutscher Film uraufgeführt,
dessen Vorgeschichte, die vor sechs Jahren begonnen hat, nicht ganz unwichtig ist. Ein deutscher Regisseur, der bisher fast nur Lustspiele gedreht hat, liest eines Tages einen Roman des israelischen Schriftstellers Ben-GavriéI, der das Schicksal einer jüdischen Hausgemeinschaft während der deuschen Besetzung Prags zum Thema hat, und ist von dem Buch so beeindruckt, daß er beschließt, einen Film daraus zu machen und sein eigenes Geld in das Projekt zu stecken. Das Drehbuch wird geschrieben, es erhält sogar eine Bundesprämie, und eine große, deutsche Filmgesellschaft ist bereit, den Verleih zu übernehmen.

Als jedoch in der Öffentlichkeit bekannt wird, daß der Film in Prag und zum Teil mit tschechischen Schauspielern gedreht werden soll, gibt es Proteste (unter anderem von einem Verband vertriebener Filmtheaterbesitzer) – der Verleih zieht sich zurück, das Projekt ist zunächst einmal „gestorben“. Erst als der Westdeutsche Rundfunk die Finanzierung übernimmt, um gleichzeitig eine dreiteilige Fernsehfassung herstellen zu lassen, kann Regisseur Kurt Hoffrnan in Prag mit den Dreharbeiten beginnen. Aber wieder dauert es fast zwei Jahre, bis ein mutiger kleiner Verleih (neue filmform heiner braun) den Film in die
Kinos bringt – und jetzt sollen, dem Vernehmen nach, bereits einige Filmtheaterbesitzer ihre Zusagen zurückziehen… Fürchten sie um ihre Kasse oder die Proteste einiger Unbelehrbarer?

Ein Haus also im alten Prag, Karpfengasse 115, mit seinen bürgerlichen, ganz und gar unpolitischen, deutschen, tschechischen und jüdischen Bewohnern: der alten Witwe eines Synagogendieners, einem Buchhändler, einem Bankangestellten, soliden Kaufleuten und mit alltäglichen Sorgen und Gepflogenheiten, dem täglichen Gang ins Geschäft und ins Kaffehaus.

„Und dann“, so heißt es bei Ben-Gavriél, „brach plötzlich die krampfhaft nicht zur Kenntnis genommene Weltgeschichte über die Karpfengasse herein. Es kam der 15. März 1939. Ein Land ward zwischen der Abend- und Morgenzeitung von der Landkarte gestrichen, und soundso viele Millionen Menschen hatten über Nacht das angeblich unveräußerliche Recht verloren, in der ihnen gewohnten Weise zu atmen, zu handeln, zu lieben und zu leben. Zlatá Praha, das Goldene Prag, war besetzt worden.“ (…)

Angst, Wehrlosigkeit, Nichtbegreifen, ergebene Resignation und skrupelloser Opportunismus: Verhaltensweisen in einer Situation, der Menschen nicht gewachsen sind, der Menschen nicht gewachsen sein können. Nur die Jugend lehnt sich auf: die Tochter des Portiers schließt sich einer studentischen Widerstandsgruppe an, sie glaubt noch, daß der Idealismus einer Gruppe Gleichgesinnter etwas erreichen kann… Mit der Großaufnahme des verzweifelten, aufgelösten Gesichts jenes Mädchens, dem in einer wahllos
verhafteten Schar von 160 Studenten (diese Episode ist authentisch) auch der geliebte Mann erschossen wurde, endet der Film.

Daß er gedreht wurde, daß endlich einmal ein deutscher Film mit Schicksalen konfrontiert, die sich millionenfach unter uns abgespielt haben (es gab sie in Frankfurt ebenso wie in Prag), statt auf die Kassenwirksamkeit exotischer Abenteuer zu setzen, ist aller Achtung wert. Man scheut sich, bei einem solchen Thema ästhetisch-formale Kriterien anzuwenden. Der Film ist kein „Kunstwerk“ im Cindésten-Sinne. Er ist nicht frei von Kolportage-Elementen (Mareks plötzlicher Wahnsinn, Lederers Flammentod), die den dokumentarischen Charakter beeinträchtigen; er verzichtet nicht auf klischeehafte Überzeichnungen (kriminelle Gestalten wie den Hausverwalter
Glaser hat es zweifellos gegeben, aber als einziger Gegenspieler wirkt dieser Typ unglaubhaft karikiert); er setzt die Musik oft zu aufdringlich ein; und wenn der Kameramann Josef Illik, der die graue Angst-Atmosphäre in der „goldenen Stadt“ von einst beklemmend eingefangen hat, mit überdimensionalen Stiefeln und Ämtertüren Kafka-Stimmung zu suggerieren versucht, wird die Symbolik zum Kunstgewerbe. (..)

Es ist nicht Schuld des Regisseur, daß jene Szenen am stärksten wirken, die von der Wirklichkeit „gestellt“ wurden: die eingeblendeten Wochenschauaufnahmen vom Einmarsch deutscher Truppen in Prag, die von Entsetzen, Haß und namenloser Angst verzerrten Gesichter der Menschen am Straßenrand, von denen viele seit jenem 15. März 1939 keine Überlebenschancen mehr hatten, nur weil sie Juden waren .., Daß der Film dies deutlich macht, daß er ein Thema behandelt, das bisher der DEFA überlassen blieb (EHE IM SCHATTEN, STERNE), und daß er es auf redliche Art bewältigt, macht ihn – trotz einiger formaler Schwächen – wichtig und sehenswert.

Belinde Bütow, Die welt, 13.3.1965

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