Nicht mehr fliehen (1954/55)

Inhalt

Der Mensch im Atomzeitalter, eine verlorene Existenz. Ein Mann, eine Frau und ein junges Mädchen fliehen aus der Stadt in das Nichts einer menschen- und gottverlassenen Steinwüste. Die zwei Erwachsenen stoßen dort auf eine aufgegebene Eisenbahnstation, wo man sich niederlässt. Bald kommt es in diesem Umfeld absoluter Hoffnungslosigkeit zu heftigen zwischenmenschlichen Spannungen aus denen eine Vergewaltigung und schließlich sogar ein Mord resultieren. Vier Polizisten tauchen auf und verhaften den Mann. (wikipedia)

 

Regie: Herbert Vesely
Buch: Herberl Vesely, Hubert Aratym
Kamera: Hugo Holub.
Schnitt: Caspar van den Berg.
Ton: Hans-Joachim Richter.
Musik: Gerhard Rühm

Darsteller:
Xenia Hagman (Sapphire)
Hector Mayro (Gerald)
Judith Folda (Inez)

Produktion: Filmaufbau GmbH, Gottingen.
Produzent: Hans Abich, Rolf Thiele.
Produktionsleitung: Herbert Vesely.
Drehzeit : 25. 10. – 26.11.1954.
Drehort: Arda (Provinz Almeria, Spanien).
Länge: 70 min, 1848 m.
Format: 35mm, s/w, 1:1.33.
Uraufführung: 27.6.1955, Hamburg.

  • IFF Mannheim 1955: Lobende Erwähnung.

Experimentalfilm, der radikal auf Handlung in einer normalen Schicht des Geschehens und Erlebens verzichtet zugunsten von Zustandsbildern und handlungsähnlichen Reaktionen. Ein Film von ausschließlich zeichenhafter Bedeutung der versucht, die resignierte Stimmung der Menschen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem angehenden Atomzeitalter einzufangen. SO auch der Filmdienst:

Eine fast handlungslose Reihung filmischer Fragmente illustriert die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins im Atomzeitalter. Thematisch und gedanklich vom Existentialismus, formal vom Surrealismus beeinflußt, versucht der halblange Experimentalfilm eine Analyse des Zeitgeistes und der Wirklichkeit der 50er Jahre. (Filmdienst)

Im Programm zum Wiener Filmfestival 2021 wird der Film wie folgt beschrieben:

Auch in nicht mehr fliehen ist die Hauptfigur eine Frau. Ihr Name ist Sapphire. In ihrer kühlen Königinnenhaftigkeit erinnert sie an Maria Casarès in ihrer Rolle des weiblichen Todes in Cocteaus Orphée , ein Film, von dem Vesely stark beeinflusst war. Sie wird als «Madame» angesprochen und spricht französisch, obwohl die Schauspielerin keine Französin war. Der Mann, der sie auf ihrer Flucht vor einer unsichtbaren Gefahr begleitet, ist ihr Chauffeur und Diener, der ihr Gepäck schleppen muss. Ins Absurde gehende Abhängigkeiten wie bei Beckett und Genet ersetzen an dem Wüstenort, der als Null-Ort gekennzeichnet ist und an dem die Flucht endet, jede weitere Entwicklung. In dem In-sich-Kreisen wird aus der Indifferenz heraus alles möglich, auch ein Mord. Die Feindseligkeit der Welt nimmt von den Menschen Besitz und macht sie fremd und grausam. Camus wird hier direkt angesprochen. Es sind die letzten Stunden vor der finalen Katastrophe. Vesely verwendete für sie die Tarnbezeichnungen, die für den Atombombentest auf dem Bikini-Atoll gebraucht wurden. Das Unternehmen hieß «Kreuzweg», das Steuerungsschiff «Abraham». «Kreuzweg» änderte er in «Null».

https://www.viennale.at/de/film/nicht-mehr-fliehen

Enno Patalas schrieb 1956: „Seit zwanzig Jahren ist dies der erste deutsche Film, der wieder einige beachtenswerte Hinweise auf die ästhetischen Möglichkeiten des Films enthält – ein Experiment, gewiss (wie jedes Kunstwerk), aber eben deshalb der mit gesicherten Resultaten aus zweiter Hand arbeitenden Routine unbedingt vorzuziehen“

NICHT MEHR FLIEHEN des 26jährigen Wieners Herbert Vesely stellt innerhalb der deutschen Nachkriegsproduktion so etwas wie ein Wunder dar. Von einer privaten Firma (Filmaufbau Göttingen) und vom Land Nordrhein-Westfalen finanziert, hat dieser junge und außergewöhnlich begabte Regisseur in Jugoslawien und Spanien ganz nach seinem Geschmack und nach seinem
Herzen drehen dürfen. Und das war gut so. Was da mit den drei Darstellern Xenia Hagman, Hector Mayro (einem Stierkampfer) und Judith Folda entstand, ist ein Bilderbogen vom Verlorenheitsgefühl der jungen Generation heute. Im
Grunde wird hier – beinahe ohne jede Handlung – mit Hilfe eines alten Lastkraftwagens und in der starren Kulisse eines Steinbruchs oder einer Eisenbahnlinie nichts weiter als die Erstarrtheit unseres Leben zu zivilisatorischer Funktion gezeigt. Ein Alptraum existentialistischer Schule – Sartres „Fliegen“ in abstrakten, von Morsetönen und Elektronenklängen untermalten Bildern oder wie Vesely selbst ein wenig umständlich erklärt: „Statische Reihung von Zuständen statt des erzählenden Bandes“.

Nun, dieser interessanteste aller nach dem Krieg gedrehten deutschen Filme, für den man nicht genug dankbar sein kann, Iebt weder von den nicht adäquaten, schauspielerischen Leistungen (von Darstellungskunst kann kaum noch die Rede sein – Xenia Hagman ist so etwas wie ein existentialistisches Mannequin) noch vom allzu überstiegenen und doch immer wieder in die Literatur zurückfallenden Buch (Vesely und Hubert Aratym). Es lebt von der grandiosen Kamera, an der Hugo Holub steht. Es lebt von den Bildern, die eine bezwingende Gewalt haben. Klar, erbarmungslos, brütend wie die Sonne, unter der sie aufgenommen wurden, folgen sie einander in linearem Aufbau, der oft an modeme Graphiken erinnert. Fern jederPoetik zeichnen sie doch mehr als nur einen ins Moderne übersetzten Hades. Sie wachsen zum Symbol –
und das ist zweifelos genau das, was der junge, genialische Vesely wollte.

Wie gesagt: NICHT MEHR FLIEHEN stellt im ganzen Rahmen unserer filmischen Situation ganz einfach eine Erlösung dar. Daß der Film als Ganzes, als Kunstwerk mißlang, tut dabei nichts zur Sache. Ich für meinen Teil halte ihn sogar als Symbol mißlungen, denn aller zivilisatorischen Oberfläche zum Trotz leben wir heute keineswegs in solcher sinnverlorenen Wüstenstadt – wenn wir nicht wollen. Wie alle avantgardistischen Taten bleibt diese Aussage denkbar einseitig. (…)


Heinz Ohff, Heidelberger Tagblatt, 24.2. 1 9 56

Ganz am Rande der »V. Internationalen Filmfestspiele Berlin 1955«, abseits der festlichen Premieren, Empfänge und Star-Paraden vollzog sich in einer spärlich besuchten Matinee im »Cinéma Paris« ein kinematographisches Ereignis: die offizielle Uraufführung des ersten deutschen avantgardistischen Spielfilms. Siebzig Minuten lang reagierte eine kleine Schar filmkunstinteressierter Festspielbummler teils fasziniert, teils befremdet auf den Ablauf merkwürdiger, surrealistisch übereinandergeschichteter Bildvisionen, die im Programm unter dem Titel »nicht mehr fliehen« als »ein Film von Zwanzigjährigen« angekündigt waren.
> weiter

Wenn man sich die filmische Einzigartigkeit von Herbert Veselys »NICHT MEHR FLIEHEN« vor Augen halten will, muss man nur einen kurzen Blick auf sein Umfeld werfen. Mitte der 50er Jahre dominierten Heimat- und Musikfilme die deutsche Produktion, etwa »WENN DIE ALPENROSEN BLÜHN« von Heimatfilm-Routinier Hans Deppe oder »DIE MÄDELS VOM IMMENHOF« von Wolfgang Schleif. Dabei war 1955 gar kein schlechtes Jahr für den deutschen Film, es entstanden auch die beiden Filme um den 20. Juli, Ophüls‘ »LOLA MONTEZ« und Siodmaks »DIE RATTEN«.
> weiter

Sie sind ein seltsames Paar, die blonde unnahbare Frau – strenge Züge, elegante Roben, hochhackige Schuhe – und der schwarzgelockte Spanier Gerard, ihr Chauffeur und Diener. Sie sind in einem alten, verbeulten Militärlaster unterwegs, der plötzlich seinen Geist aufgegeben hat, mitten in der Wüste. Sie sind am Ende, müssen schauen, wie sie sich einrichten. Gleise, die ins Nichts führen, ein Turm, ein Kran, Häuser, die nicht mal feste Wände haben. Soll ich das Gepäck bringen, fragt der Mann. Die Frau parliert, wenn sie nicht schweigt, am liebsten Französisch.
> weiter

An die Regisseure der Weimarer Republik wollten die Unterzeichner des „Oberhausener Manifest“ 1962 anknüpfen. Neben Alexan­der Kluge und Edgar Reitz gehörte zu dieser Gruppe auch Herbert Veseley, der damals mit der Böll-Verfilmung „Das Brot der frühen Jahre“ (mit einem Jazzscore von Attila Zoller) den Startschuss geben sollte zum so genannten „Neuen Deutschen Film“, der mit Kluges „Abschied von gestern“ ab den späten Sixties so richtig in Fahrt kommen sollte. Vesely war neben Hansjürgen Pohland, der mit „Tobby“ einen herausragenden Debütfilm abgeliefert hatte, der einzige Regisseur der „Oberhausener“, der bereits 1955 einen Achtungserfolg erzielt hatte, mit seinem mittellangen Experimentalspielfilm „Nicht mehr fliehen“. Ein legendärer „Solitär“ der deutschen Filmgeschichte, produziert vom großen Hans Abich, der die Filmkunst der frühen Nachkriegszeit entscheidend mitgeprägt hat. Inspiriert von Cocteaus „Orphée“ und Camus’ Existentialismus inszenierte Vesely ein Endzeitszenario, das Hans Helmut Prinzler so beschreibt: „Eine Steinwüste, ein kahler Meeresstrand, ein Frauengesicht, ein einsames Kind, Szenen der Gewalt, ein Schienenstrang, ein Bunker.“ Und dazu erklingt Zwölftonmusik des jungen Gerhard Rühm, die durchsetzt ist mit Sprachfetzen und Geräuschen. Wenn man will, ist Rühms Score das „Link“ zwischen der „Wiener Gruppe“ (um Artmann, Wiener, Bayer), die er mitbegründet hat und seinen späteren Experimenten im „Neuen Hörspiel“, bei denen er sich in die Grenzbereiche von Musik und Sprache wagte. (…)

neue musik zeitung 10/2020 – 69. Jahrgang

Das könnte dich auch interessieren …